Koalitionskrach Worum sich Union und SPD schon wieder bei der Rente streiten

Rentner auf dem Feldberg im Taunus
Foto: Boris Roessler / picture alliance/dpaRentenstreit und Rentenkompromiss - diese beiden Schlagworte wechseln sich in der deutschen Politik regelmäßig ab. Der letzte Kompromiss liegt noch nicht allzu lange zurück: In ihrem Koalitionsvertrag einigten sich Union und SPD im Februar auf eine Reihe von Reformen.
Wenige Monate später wird schon wieder gestritten. Nachdem Finanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) eine langfristige Stabilisierung des Rentenniveaus forderte, werfen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und CSU-Chef Horst Seehofer dem Koalitionspartner vor, Verunsicherung zu schüren. Ein Spitzentreffen der drei blieb am Wochenende ohne greifbares Ergebnis.
Den neuen Streit gibt es, weil die Vereinbarungen viele Fragen noch nicht beantworten, sondern sie lediglich in die Zukunft verschoben haben. Eine Expertenkommission soll sie klären. Doch deren Ergebnisse wollte die SPD angesichts nahender Landtagswahlen in Bayern und Hessen offensichtlich nicht abwarten. Vizekanzler Scholz drohte bereits damit, die Rente notfalls zum Wahlkampfthema zu machen - und begründete seine Offensive mit nicht weniger als der Verhinderung eines deutschen Donald Trump.
Der jüngste Vorstoß der SPD würde eine Änderung der bisherigen Rentenpolitik und milliardenschwere Mehrkosten bedeuten. Wie diese Kosten finanziert werden sollen, ist offen - und das führt zu anderen letztlich ungelösten Streitfragen der Koalition.
Was ist bislang vereinbart?
Das Rentenniveau misst die Höhe einer Standardrente nach 45 Beitragsjahren im Verhältnis zu einem Durchschnittsverdienst. Nach geltendem Recht wird es in Zukunft sinken. Die Politik reagierte damit vor allem auf den demografischen Wandel: Wegen sinkender Geburtenraten muss eine schrumpfende Zahl von Beitragszahlern eine wachsende Zahl von Rentnern finanzieren. Damit die Beiträge zu Rentenversicherung nicht immer weiter steigen, soll stattdessen das Rentenniveau sinken.
Doch auch dabei gibt es Grenzen. Im aktuellen Koalitionsvertrag wurde auf Druck der SPD die sogenannte doppelte Haltelinie vereinbart. Demnach darf bis 2025 das Rentenniveau nicht unter 48 Prozent sinken und der Beitragssatz nicht über 20 Prozent steigen. Dies will die Koalition bei Bedarf auch "durch Steuermittel sicherstellen". Unter Berufung auf diese Vereinbarung legt Finanzminister Scholz ab 2021 jährlich zwei Milliarden Euro für eine sogenannte Demografievorsorge Rente zurück.
Im Koalitionsvertrag wurde zudem eine Reihe kleinerer Rentenreformen vereinbart. Dazu gehören ein Ausbau der Mütterrente, Verbesserungen der Erwerbsminderungsrenten sowie die Entlastung von Geringverdienern bei den Beiträgen. Diese Änderungen sind zusammen mit der doppelten Haltelinie im sogenannten Rentenpakt von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) gebündelt.
Was ist strittig?
Für Streit sorgt vor allem ein Vorstoß von Scholz. Er sagte der "Bild am Sonntag", die SPD werde "darauf bestehen, dass die Bundesregierung ein stabiles Rentenniveau auch in den Zwanziger- und Dreißigerjahren gewährleistet und ein plausibles Finanzierungsmodell vorlegt". Das kritisieren sowohl Politiker aus der Union und von Oppositionsparteien als auch Vertreter der Rentenkommission als unzulässige Vorfestlegung.
Der Rentenpakt wurde entgegen der ursprünglichen Planungen noch nicht vom Kabinett verabschiedet. Die Union will parallel den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung stärker absenken als im Koalitionsvertrag vereinbart.
Arbeitsminister Heil zeigt sich dafür offen, will im Gegenzug aber mehr Mittel für die Weiterbildung und einen früheren Anspruch auf Arbeitslosengeld. Zugleich fordert er wie Scholz eine langfristige Lösung. "Wenn das nicht möglich ist, müssen wir darüber auch bei Wahlen streiten", sagte Heil im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. "Das ist Demokratie." Bei einem Treffen am Dienstagabend wollen die Partei- und Fraktionschef der Koalition erneut über einen Kompromiss verhandeln.
Woher kommt der Streit?
Für die von Scholz geforderte Stabilisierung der Rente über 2025 hinaus sind hohe Milliardensummen erforderlich. Der Ökonom Martin Werding errechnete für den SPIEGEL jährliche Mehrkosten von 89 Milliarden Euro im Jahr 2040 . Der Rentenforscher Axel Börsch-Supan kam zusammen mit anderen Rentenreformen - wie etwa der Mütterrente - auf eine ähnliche Summe. Allein die doppelte Haltelinie kostet Börsch-Supan zufolge 50 Milliarden Euro.
Finanzieren ließen sich diese Mehrkosten mit einer weiteren Erhöhung des Rentenalters, was politisch aber derzeit wenig wahrscheinlich ist. Auch weitere Erhöhungen der Beitragssätze sind schwer zu vermitteln. Als Alternative bleibt, dass der Bund die Rentenkasse mit mehr Geld unterstützt - und dazu notfalls die Steuern erhöht.
Scholz ist dazu nach SPIEGEL-Informationen bereit, aus seiner Partei kommen bereits konkrete Vorschläge. So forderte Parteivize Ralf Stegner höhere Steuern für Gutverdiener. Ähnlich äußerte sich Haushaltsexperte Johannes Kahrs, der neben einer Rückkehr der Vermögensteuer auch eine Finanztransaktionssteuer ins Gespräch brachte.
Doch die Verhandlungen über eine europäische Finanztransaktionssteuer kommen seit Jahren kaum voran. Eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes findet sich wegen des Widerstands der Union nicht im Koalitionsvertrag. Und eine Rückkehr der Vermögensteuer stand nicht einmal im SPD-Wahlprogramm. Deshalb könnte die Diskussion über die Stabilisierung des Rentenniveaus schnell zu einem Grundsatzstreit über die Arbeitsgrundlagen der Koalition werden.

Finanzminister Olaf Scholz
Foto: CLEMENS BILAN/EPA-EFE/REX/ShutterstockOhne überzeugende Gegenfinanzierung gefährdet Finanzminister Scholz auch seinen Ruf als nüchterner Rechner - zumal er von seinem Vorgänger das Bekenntnis zur schwarzen Null übernommen hat. Scholz kontert solche Kritik mit den Hinweis, der Bundeshaushalt werde in Zukunft voraussichtlich weiter wachsen und damit auch zusätzliche Spielräume für die Rente bieten. Allerdings schießt der Bund schon heute jährlich mehr als 90 Milliarden Euro an die Rentenversicherung zu. Das ist ein Drittel der gesamten Rentenzahlungen - und mit einem guten Viertel schon heute der größte Posten des gesamten Bundeshaushalts.
Im Video: Wenn die Rente nicht zum Leben reicht