
BRD im Abschwung Problemzone Deutschland


Es ist eine Krise in Zeitlupe. Bereits seit Anfang 2018 verschlechtert sich die Stimmung bei den Unternehmen zusehends. Die Industrie erhält immer weniger Aufträge und fährt die Produktion zurück.
Es ist gut möglich, dass die amtlichen Statistiker Donnerstag zum zweiten Mal in Folge einen leichten Rückgang der deutschen Wirtschaftsleistung vermelden werden. Der Abschwung hat sich lange ankündigt, jetzt ist er da. Das ist kein Drama - jedenfalls noch nicht.
Deutschland stagniert, aber es schrumpft nicht. So sagen es unisono die Prognosen der Wirtschaftsforschungsinstitute, des Sachverständigenrats ("Fünf Weisen") oder des Internationalen Währungsfonds vorher. Die Arbeitslosigkeit ist nach wie vor niedrig. Finanziell stehen Staat, Unternehmen und Bürger so solide da wie in keiner anderen der großen westlichen Volkswirtschaften. Spielräume gibt es also reichlich.

Institut für Journalistik, TU Dortmund
Henrik Müller ist Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus an der Technischen Universität Dortmund. Zuvor arbeitete der promovierte Volkswirt als Vizechefredakteur des manager magazin. Außerdem ist Müller Autor zahlreicher Bücher zu wirtschafts- und währungspolitischen Themen. Für den SPIEGEL gibt er jede Woche einen pointierten Ausblick auf die wichtigsten Wirtschaftsereignisse der Woche.
Wir mögen abermals "das Land mit der roten Laterne" sein, das Schlusslicht am Euro-Zug, so wie einst, in der Phase der deutschen Schwäche von Mitte der Neunziger- bis Mitte der Nullerjahre. Aber was soll's, könnte man meinen. Anders als heute herrschte damals Massenarbeitslosigkeit, die Staatsschulden stiegen rapide. Es waren schwierige Jahre. Deutschland musste mit einem Dreifachschock zurechtkommen: Zur Globalisierung und zur Euro-Einführung kamen noch die Folgen der Wiedervereinigung. Kein Wunder, dass es so lange dauerte, bis die Schwächephase überwunden war.
Danach war Deutschland zurück, und zwar gewaltig. Auf das Jahrzehnt des deutschen Blues folgte eine Art zweites Wirtschaftswunder: Ab 2006 wuchs und gedieh die Volkswirtschaft. Selbst die globale Krise von 2008/09 war hierzulande nicht mehr als eine Delle. Während Teile Europas und Nordamerikas in anhaltender Agonie versanken, schien es in Deutschland unaufhaltsam aufwärtszugehen: Die Beschäftigung stieg, irgendwann auch die Reallöhne; die Staatseinnahmen sprudelten. Und weil's so schön war, wählten die Bürger immer wieder Angela Merkel zur Bundeskanzlerin.
Diese Phase geht nun zu Ende. Nun werden die Dinge schwieriger. Ich sehe insbesondere drei Problemfelder, die das Potenzial haben, den Abschwung empfindlich zu verschärfen.
Problemfeld 1: Die Schulden der anderen
Isoliert betrachtet mag die deutsche Wirtschaft solide dastehen, mit niedriger Verschuldung und satten Überschüssen in der außenwirtschaftlichen Bilanz und im Staatshaushalt. Doch bei den wichtigsten Partnerländern ist die Lage anders: Ob im übrigen Westeuropa, in den USA oder in China - die Schulden der Staaten und der Unternehmen sind hoch; längst sind die Folgen der Finanzkrise und der folgenden Rezession nicht ausgebügelt.
Das macht diese Länder anfällig - und somit auch die Bundesrepublik, die vielfältig mit ihnen durch Produktions- und Lieferketten sowie Kapitalströme verflochten ist. Gehen im Zuge des Abschwungs die Einnahmen zurück, könnten abermals einige Staaten, Firmen und Banken an den Rand der Zahlungsunfähigkeit geraten. Die Rückwirkungen wären auch hierzulande zu spüren.
In den Nullerjahren war die Lage anders. Damals boomten unsere wichtigsten Handelspartner in Europa und Nordamerika - und zogen die Bundesrepublik mit. Als dann die Finanzkrise ausbrach, nahm der Boom in den Schwellenländern so richtig Fahrt auf; die exportabhängige deutsche Wirtschaft schwenkte kurzerhand um und expandierte dort.
Die ausländische Nachfrage nach deutschen Produkten war lange Zeit ein stabilisierender Faktor für die hiesige Wirtschaft. Der derzeitige Abschwung aber verläuft weltweit ziemlich synchron. Praktisch alle Weltregionen sind betroffen. Dynamische neue Märkte, die noch von deutschen Firmen erschlossen werden könnten, sind nicht in Sicht.
Anders als in den vergangenen Jahrzehnten kann die Bundesrepublik nicht mehr darauf vertrauen, dass sich die Konjunktur über den Export stabilisieren lässt. Im Gegenteil: Die derzeitige deutsche Schwäche droht auf andere Länder, insbesondere in der Eurozone, überzuspringen und dort, angesichts hoher Schulden, erneute Finanzkrisen auszulösen - was wiederum die hiesige Industrierezession verschärfen würde.
Wir hängen alle mit drin.
Die Eurozone nachhaltig zu stabilisieren, sollte deshalb Priorität haben. Insofern hat Finanzminister Olaf Scholz mit seinem Vorstoß für den Aufbau einen eurozonenweiten Einlagensicherung recht. Wenn Deutschland seine Rolle als notorischer Bremser aufgäbe, wäre das eine Versicherung gegen den nächsten Crash. Letztlich geht es darum, den europäischen Heimatmarkt abzusichern. Auf die globalen handelspolitischen Konflikte hat die Bundesregierung ohnehin kaum Einfluss. Die momentanen Signale der Entspannung aus Washington gegenüber China und gegenüber der EU sind jedenfalls wenig verlässlich.
Problemfeld 2: Auto
Immer noch steht die Drohung der US-Administration im Raum, Zölle auf Autoimporte aus der EU zu verhängen. Mitte des Monats soll eine Entscheidung fallen. Auch wenn Handelsminister Wilbur Ross nun von Fortschritten in den Verhandlungen spricht: US-Präsident Donald Trump hat bereits diverse erratische Kehrtwenden vollzogen. Von amerikanischen Zöllen auf Autoimporte wäre vor allem die deutsche Autoindustrie betroffen, eine enorme zusätzliche Belastung für die Industrie.
Deutschland hat ein strukturelles Problem: Im zurückliegenden langen Aufschwung hat sich die hiesige Volkswirtschaft immer weiter aufs Auto spezialisiert. Das betrifft nicht nur die Autobauer und Zulieferer und deren Beschäftige, die schon heute unter der lahmen globalen Autokonjunktur und den Handelskonflikten leiden, sondern auch das gesamter Innovationsgeschehen im Lande.
Deutsche Unternehmen geben im internationalen Vergleich viel für Forschung und Entwicklung aus. Aber mehr als die Hälfte davon entfällt auf die Weiterentwicklung des Autos. Andere wissensintensive Branchen - wie Biotech, Pharma oder IT - spielen hierzulande nur Nebenrollen, wie die Fünf Weisen in ihrem Jahresgutachten vorrechnen.
Diese Spezialisierung ist eine große Wette. Gelingt es, das Auto neu zu erfinden - mit alternativen Antriebstechniken, autonomen Fahrsystemen und neuen Geschäftsmodellen rund um datengestützte Dienstleistungen -, könnte das Deutschlands wichtigstem Industriezweig zu einer neuen Blüte verhelfen. Gelingt dies nicht (oder machen neue Konkurrenten anderswo das Rennen), droht eine herbe Strukturkrise.
Problemfeld 3: Demographie
Dass der zurückliegende Aufschwung so lange währte, liegt vor allem an der Zuwanderung. Ohne die Millionen von Erwerbsmigranten, die seit 2010, überwiegend aus anderen europäischen Ländern, nach Deutschland gekommen sind, wäre das Wachstum längst wegen Arbeitskräftemangels zum Stillstand gekommen.
Ältere Prognosen hatten noch vorhergesagt, dass Deutschland sein demographisches Maximum an Arbeitsfähigen um das Jahr 2010 erreichen würde - bei gut 44 Millionen Personen. Tatsächlich liegt dasErwerbspersonenpotenzial heute um fast vier Millionen Menschen höher. Deshalb konnte das Arbeitsvolumen immer weiter steigen und die Wirtschaft anschieben. Es gab in Deutschland bessere Verdienstmöglichkeiten als anderswo in Europa. Deshalb kamen die Leute her.
In einer ausgedehnten deutschen Strukturkrise hingegen steht zu befürchten, dass viele ausländische Beschäftigte Deutschland dauerhaft den Rücken kehren - und neue Zuzügler nur noch in geringer Zahl ins Land kommen. Angesichts der Alterung der heimischen Bevölkerung wäre dies ein ökonomischer Rückschlag mit weitreichenden und langfristigen Konsequenzen.
Und was jetzt?
Der derzeitige Abschwung ist mehr als eine bloße zyklische Schwächephase, wie sie immer wieder vorkommen. Er geht einher mit dem Risiko von Strukturbrüchen, die langfristige und schwerwiegende Folgen haben können. Sie dürften die Sicht der Deutschen auf sich selbst tiefgreifend verändern.