Wirtschaftskrise Russlands Mittelschicht wendet sich vom Westen ab

Die schwere Wirtschaftskrise lässt die russische Mittelschicht offenbar patriotischer werden. Obwohl die Inflation den Menschen zu schaffen macht, wollen immer weniger eine Reform nach westlichem Vorbild.
Einkaufszentrum in Moskau

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Foto: Yuri Kochetkov/ dpa

Russland steckt in der Krise, im vergangenen Jahr ging die Wirtschaftsleistung um 3,8 Prozent zurück. Die Aussichten für 2016 sind ebenfalls finster. Russlands Zentralbank rechnet mit einem weiteren Minus von bis zu 1 Prozent.

Doch die Mittelklasse des Landes hat das bislang noch nicht besonders getroffen. Jedenfalls nicht so, dass daraus Unmut über den Kurs des Kreml entstehen würde. Im Gegenteil.

Russlands Akademie der Wissenschaften hat gemeinsam mit der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung untersucht, wie Russlands Mittelschicht auf die Wirtschaftskrise reagiert. Die Studie zeigt, dass die Wirtschaftskrise und Russlands Konfrontationskurs mit dem Westen bislang nicht zu wachsender Kritik am Kreml führen. Selbst in der eher progressiv eingestellten Mittelschicht sinkt die Zahl derer, die sich eine Entwicklung Russlands nach westlichem Vorbild wünschen.

Zwischen Februar 2014 (vor der Annexion der Krim) und Oktober 2015 sank die Zahl der Befürworter einer "westlichen Entwicklung" in der Mittelklasse um 5 Prozentpunkte auf nur noch 27 Prozent. Die überwältigende Mehrheit glaubt dagegen an den vom Kreml propagierten "eigenen Weg". Damit ist Russlands Mittelschicht zum ersten Mal seit Jahren fast genauso konservativ eingestellt wie der Rest der Bevölkerung (siehe Grafik).

Die Soziologen unterteilen die Bevölkerung nach Kriterien wie Einkommen, Berufsstand und Bildung in vier Klassen: Kern-Mittelschicht (1) und Peripherie der Mittelschicht (2) bilden zusammen die Mittelschicht. Hinzu kommen die potenzielle Mittelschicht (3) und Rest der Bevölkerung (4). Auffallend ist der Zuwachs der Mittelschicht (1+2) in den vergangenen Jahren: 2003 lag er bei 29 Prozent, 2014 waren es 42 Prozent, 2015 trotz der Krise 44 Prozent.

Für die Kern-Mittelschicht ergab sich 2015 ein durchschnittliches Monatseinkommen von 22.600 Rubel. Zum derzeitigen Wechselkurs entspricht das umgerechnet rund 280 Euro. Verglichen mit 2014 sind die Einkünfte der Kern-Mittelschicht um rund 1500 Rubel gesunken. Die realen Kaufkraftverluste sind allerdings deutlich größer, da der Rubel im Sog des Ölpreis-Sturzes massiv an Wert verloren hat. In Russland hat das die Inflation angeheizt. Entsprechend bekommen die Menschen weniger für ihr Geld.

Die Teuerung hat die Mittelklasse ebenso wie den Rest der Bevölkerung spürbar getroffen. Seltener als der Bevölkerungsdurchschnitt klagt die Mittelschicht dagegen über Gehaltskürzungen, die aus wirtschaftlichen Schwierigkeiten ihres Arbeitgebers resultieren. Davon dürften eher Arbeiter von Fabriken und Industriekombinaten betroffen sein.

Ende Februar sorgte beispielsweise eine Umfrage für Aufsehen, die der Geheimdienst FSO in Auftrag gegeben hatte. Untersucht wurde die Stimmung in Russlands sogenannten Monostädten. Gemeint sind Orte, in denen seit Sowjetzeiten weite Teile der Bevölkerung in einem einzigen Werk arbeiten. Die Umfrage kam zu dem Schluss, dass fast 60 Prozent der Monostadt-Bewohner die Lage als kaum erträglich darstellten.

Die Mittelschicht schätzt ihre Lage dagegen überraschend deutlich positiver ein. In der Kern-Mittelschicht gaben 2015 noch 48 Prozent an, ihre Lage habe sich sogar verbessert (Rest der Bevölkerung: 25 Prozent). Russlands Mittelklasse gehe davon aus, dass es sich bei der Krise um "vorübergehende Schwierigkeiten" handle, sagte Natalija Tichonowa, Mit-Autorin der Studie.

Der Moskauer Forscher Michail Dmitrijew hatte das Phänomen bereits im vergangenen Jahr beschrieben: Normalerweise habe die Mittelschicht andere politische Prioritäten als der Rest der Bevölkerung, sie strebe nach Selbstverwirklichung und Möglichkeiten des Aufstiegs, die in Widerspruch stünden zum Kurs eines autoritären Regimes. Die Ukrainekrise und der Konflikt mit dem Westen hätten aber dazu geführt, dass sich auch die Mittelklasse um den Kreml schare. Dmitrijew bezeichnet das Phänomen als "defensiven Patriotismus".

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