Spargel- und Erdbeerernte "Arbeitgeber wetten darauf, dass die Menschen sich nicht wehren"

Erdbeerernte in Niedersachsen
Foto: Fritz Rupenkamp/ Countrypixel/ imago imagesSPIEGEL: In diesem Jahr kamen wegen der Coronakrise nur 80.000 statt wie üblich 300.000 Saisonarbeiterinnen und -arbeiter nach Deutschland. Es gab zusätzliche Auflagen für die Betriebe. Wie ist die Lage für Wanderarbeiter in dieser Saison?
Guia: In diesem Jahr kamen die Verstöße gegen Hygieneauflagen hinzu, ansonsten sind die Probleme seit Jahren dieselben: Die Menschen arbeiten zu viel, bis zu 12 oder 13 Stunden pro Tag, auch am Wochenende. Dann die Unterkünfte: Es gab Fälle, in denen Arbeiter zu zehnt in einem heruntergekommenen Zimmer schliefen. Das ist nicht zulässig. Zwei bis maximal vier Personen pro Raum sind jetzt erlaubt, aber viele Betriebe halten sich trotz Corona nicht daran. Ein weiteres Problem ist die Hygiene. Abstand zu halten war oft nicht möglich, weil sich zum Teil 150 Menschen eine Küche, zwei Toiletten und vier Duschen teilen mussten. Bei der Arbeit selbst haben die Menschen berichtet, dass sie keine Masken oder Desinfektionsmittel bekommen haben. Auch in Bussen, die die Arbeiterinnen und Arbeiter auf die Felder gebracht haben, konnte oft kein Abstand gehalten werden.
SPIEGEL: Können die Arbeiter etwas dagegen unternehmen?
Guia: Kaum, denn sie haben ja keine Alternative. Die wenigsten sind gewerkschaftlich organisiert, obwohl es auch Angebote für Saisonarbeiter gibt. Aufbegehrt wird höchstens mal, wenn es um die Löhne geht. Es wird viel im Akkord gearbeitet, also etwa pro Kiste Spargel ein gewisser Betrag bezahlt. Oft führt das dazu, dass im Endeffekt weniger ausbezahlt wird als versprochen, und deutlich unter dem Mindestlohn. Ich habe Fälle erlebt, da haben die Leute drei bis fünf Euro die Stunde verdient.
SPIEGEL: Ist das erlaubt?
Guia: Nein. Akkordarbeit ist erlaubt, aber nicht, wenn damit der Mindestlohn umgangen wird. Die geleisteten Stunden müssen in der Lohnabrechnung stehen, und das ist sehr oft nicht der Fall. Bei der Abrechnung wird auch oft getrickst. Es stehen unzulässige Abzüge darauf, mit dem Ergebnis, dass die Leute weit unter dem Mindestlohn verdienen. Auf einem Betrieb bei Bonn habe ich solche Lohnabrechnungen gesehen: Manche haben 400 Euro für einen Monat bekommen, andere nur 300. Einige hatten ein bisschen Glück und bekamen 800 netto. Etwa 250 Arbeiter wurden um Teile ihres Lohns geprellt. Manche davon haben demonstriert und versuchen jetzt, das Geld einzuklagen.
SPIEGEL: Das aber scheinen Ausnahmen zu sein.
Guia: Ja, denn die meisten sehen in der Arbeit in Deutschland einen Schatz. Sie sichert die Ernährung der Familien, die Ausbildung der Kinder, mitunter auch den Bau oder die Renovierung eines Hauses daheim. Die Angst, die Arbeit zu verlieren, ist groß. Die Leute leben abgeschottet, oft bleiben die Verstöße im Verborgenen. In diesem Jahr sind wir über soziale Medien wie Facebook teils früher an Informationen zu Problembetrieben gekommen. Aber meist erfahren wir von der Ausbeutung erst im Nachhinein.
SPIEGEL: Welche Tricks wenden die Arbeitgeber noch an, um den Lohn zu drücken?
Guia: Meistens wird mit der Miete getrickst. Bei der Anwerbung im Herkunftsland wird vielen versprochen, sie könnten umsonst wohnen oder für kleines Geld, 100 Euro etwa. Später erfahren sie, dass sie deutlich mehr bezahlen müssen. Die Lohnabrechnung gilt dann gleichzeitig als Mietvertrag, doch das ist verboten. Auch beim Essen wird geschummelt. Man kann den Arbeitern bis zu sieben Euro pro Tag für Essen abziehen, das wird oft überschritten. In Quarantäne-Zeiten haben Arbeitgeber angeboten: Wir können für euch einkaufen. Die Leute sollten einfach auf einem Formular eintragen, was sie brauchen. Die Kosten wurden dann vom Lohn abgezogen. Aber es kam vor, dass gar keine Quittungen ausgehändigt wurden, der Arbeitgeber konnte abziehen, was er wollte.
SPIEGEL: Deutschland gilt als Land der Arbeitsschutzverordnungen. Warum werden beispielsweise die Unterkünfte der Arbeiter nicht härter kontrolliert?
Guia: Die Kontrollen in Deutschland reichen nicht aus. Es mangelt den Behörden an Personal, um die mehr als 20.000 Betriebe mit Wanderarbeitern überprüfen zu können. Für baurechtliche Fragen und Brandschutz in den Unterkünften sind meist die Landkreise zuständig. Was da an Bruchbuden teils über Jahre geduldet wird, ist abenteuerlich. Hinzu kommt: Die Probleme der Wanderarbeiter scheinen bei den Behörden nicht unbedingt ganz oben auf der Prioritätenliste zu stehen. Auch Arbeitsschutzkontrollen werden hintergangen.
SPIEGEL: Wie das?
Guia: Die Arbeitnehmer werden bedroht, nicht die Wahrheit zu erzählen. Sie sollen den Kontrolleuren sagen: "Hier ist alles in Ordnung, es gibt keine Akkordarbeit, wir werden pro Stunde bezahlt." Das habe ich selbst auf Höfen erzählt bekommen. Wer sich nicht daran hält, dem wird mit Entlassung gedroht.
SPIEGEL: Warum verhalten sich die Betriebe so?
Guia: Sie können auf Kosten der Menschen Geld sparen und halten Personalkosten niedrig. Hinzu kommt, dass Migranten als Arbeiter zweiter Klasse gesehen werden, die erst mal vor allem dankbar zu sein haben. Beim Besuch eines Erdbeerhofs mit einer Gewerkschaftskollegin hat uns der Betreiber gesagt, er zahle keinen Mindestlohn, denn der mache ihm das Geschäft kaputt. Er meinte: "Die Menschen sollen zu schätzen wissen, dass sie überhaupt Arbeit haben, dass wir ihnen eine Chance geben."
SPIEGEL: Auch viele Landwirte sind in wirtschaftlicher Not.
Guia: Das kann gut sein. Aber das berechtigt sie nicht, die Menschen wie moderne Sklaven zu behandeln und ihnen etwa die Ausweise abzunehmen. Wir hatten in NRW den Fall eines Betriebs, der schon Insolvenz angemeldet hatte und Leute holte, obwohl klar war, dass es Probleme geben könnte, sie zu bezahlen. Da kam es dann auch zu Demonstrationen.
SPIEGEL: Sollte man solche Betriebe an den Pranger stellen können, wie es ja längst bei Hygieneverstößen etwa in der Gastronomie möglich ist?
Guia: Das scheint mir das Einzige zu sein, was funktionieren könnte. Die Betriebe agieren im Schatten und scheuen sich davor, sichtbar zu werden - durch Corona hat sich das bereits etwas geändert. Optimal ist eine solche "Name-and-shame"-Lösung nicht, doch es wird nicht anders gehen. Aber auch in ihrer Heimat müssen die Leute besser über ihre Rechte aufgeklärt werden. Länder wie Rumänien und Bulgarien können da ihre Hände nicht in Unschuld waschen und nur sagen: Das ist ein deutsches Problem. Es muss zudem mehr kontrolliert und härter bestraft werden. Arbeitgeber sollten nicht weiter darauf wetten, dass die Menschen sich nicht wehren. Wer Menschen schlecht behandelt und Sozialbetrug betreibt, sollte damit rechnen müssen, dass sein Betrieb geschlossen wird.