Abkehr von der schwarzen Null Warum die Schuldenregeln wackeln

Protest gegen die Schuldenbremse in Hamburg: "Instrument zur Rettung der neoliberalen Zurichtung"
Foto: Markus Scholz/ picture alliance/ DPAEs ist nicht ganz leicht mit den deutschen Schuldenregeln, das musste auch Annegret Kramp-Karrenbauer erfahren. Als sie in der vergangenen Woche im Fernsehsender n-tv zu einer möglichen Aufweichung deutscher Sparpolitik befragt wurde, sagte die CDU Chefin, schon die "jetzige Regelung zu einer schwarzen Null im Grundgesetz" sehe ja Ausnahmen in Krisenzeiten vor. Deshalb brauche man "das Prinzip an sich nicht gleich zur Seite zu legen".
Tatsächlich aber steht von einer schwarzen Null nichts im Grundgesetz. Der Verzicht auf neue Schulden ist ein politisches Ziel, das unter Ex-Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) erstmals seit Jahrzehnten erreicht wurde und das Nachfolger Olaf Scholz (SPD) übernommen hat. Angesichts der sich eintrübenden Konjunktur erwägt die Bundesregierung nach SPIEGEL-Informationen nun, die schwarze Null im Kampf gegen eine Rezession zu opfern.
Wachsende Kritik gibt es auch an der Schuldenbremse, die im Gegensatz zur schwarzen Null tatsächlich Verfassungsrang hat (mehr dazu lesen Sie im folgenden Überblick zu den verschiedenen Schuldenregeln). Durch sie wird der Spielraum für neue Staatsschulden deutlich eingeschränkt. Die Länder sollen in wirtschaftlich guten Zeiten sogar überhaupt keine neuen Kredite mehr aufnehmen.
Die Regeln des Schuldenmachens
»Die Haushalte von Bund und Ländern sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen«, steht in Artikel 109 des Grundgesetzes. Die Länder dürfen künftig keine von der Konjunktur unabhängigen Schulden mehr machen, die des Bundes werden auf 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts begrenzt.
Gültig seit
Für den Bund seit 2016, für die Länder ab 2020.
Verbindlichkeit
Die Schuldenbremse hat Verfassungsrang. In Wirtschaftskrisen oder Notlagen wie einer Naturkatastrophe darf die Verschuldung höher ausfallen. Es muss aber einen verbindlichen Plan für die Tilgung der Kredite geben.
Schuldenspielraum für Deutschland (gemessen am BIP 2018)
Für den Bund rund zwölf Milliarden Euro.
Umsetzung
Der Bund hat die Schuldenbremse bis 2020 eingehalten. Seitdem ist sie wegen der Coronakrise ausgesetzt.
Die Konvergenzkriterien des Maastricht-Vertrags müssen Länder erfüllen, die den Euro einführen wollen. Demnach darf die Neuverschuldung (Defizit) maximal drei Prozent und die Gesamtverschuldung maximal 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen. Durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) müssen diese Vorgaben auch nach dem Beitritt zum Euro eingehalten werden.
Gültig seit
1993 (Maastricht-Vertrag) und 1999 (SWP).
Verbindlichkeit
Die Maastricht-Kriterien sind zwar im EU-Recht verankert, wurden aber schon oft verletzt. Die EU-Kommission hat deshalb zahlreiche sogenannte Defizitverfahren eingeleitet, die aber ohne finanzielle Konsequenzen blieben.
Schuldenspielraum für Deutschland (gemessen am BIP 2018)
Knapp 102 Milliarden Neuverschuldung und gut zwei Billionen Gesamtverschuldung.
Umsetzung
Deutschland verstieß frühzeitig gegen beide Regeln. Die Gesamtverschuldung fiel 2019 erstmals seit 17 Jahren unter 60 Prozent, überstieg diese Marke im Folgejahr wegen der Coronakrise aber schon wieder deutlich. Auch die Neuverschuldung lag 2020 mit knapp fünf Prozent weit über der Maastricht-Hürde. Wegen der Coronakrise setzte die EU ihre Defizitregeln in der Pandemie aber ohnehin aus.
Der Fiskalpakt wurde als Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspakts beschlossen, nachdem dieser die europäische Schuldenkrise nicht verhindern konnte. Statt nur die Drei-Prozent-Grenze der Maastricht-Kriterien einzuhalten, sollen die Unterzeichner des Fiskalpakts mittelfristig ausgeglichene Haushalte anstreben. Die von der Konjunktur unabhängige Verschuldung des Gesamtstaates darf dabei maximal 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen. Liegt der Gesamtschuldenstand deutlich unter 60 Prozent, so erhöht sich dieses Limit auf 1,0 Prozent.
Gültig seit
2013
Verbindlichkeit
Die unterzeichnenden Staaten müssen ihre Ziele in der Verfassung verankern, wie es Deutschland mit der Schuldenbremse getan hat. Der Fiskalpakt sieht erstmals die Möglichkeit finanzieller Sanktionen bei Nichteinhaltung vor. Bislang wurde von dieser Möglichkeit kein Gebrauch gemacht.
Schuldenspielraum für Deutschland (gemessen am BIP 2018)
Knapp 17 Milliarden, solange die Gesamtverschuldung über 60 Prozent liegt.
Umsetzung
Bislang hat Deutschland die Schuldenregeln des Fiskalpakts eingehalten. Wegen der Coronakrise sind sie derzeit ausgesetzt.
Wenn staatliche Einnahmen und Ausgaben gleich hoch sind, steht unterm Strich die sprichwörtliche schwarze Null. Neue Schulden sind in diesem Fall nicht nötig. Man spricht auch von einem ausgeglichenen Haushalt.
Gültig seit
-
Verbindlichkeit
Die schwarze Null ist keine gesetzliche Vorschrift. Als gemeinsames Ziel von Union und SPD findet sie sich aber im aktuellen Koalitionsvertrag.
Schuldenspielraum für Deutschland (gemessen am BIP 2018)
Keiner
Umsetzung
Im Bund wurde die schwarze Null 2014 zum ersten Mal seit 45 Jahren erreicht und bis 2020 gehalten. Dann machte der Staat wegen der Coronakrise neue Schulden in Höhe von rund 130 Milliarden Euro.
In Hamburg läuft gegen die Einschränkungen der Schuldenbremse inzwischen eine Volksinitiative. Die Initiatoren haben nach eigenen Angaben schon mehr als die Hälfte der notwendigen Stimmen zusammen. Die Schuldenbremse sehen sie als "eines der letzten Instrumente zur Rettung der neoliberalen Zurichtung von Subjekt und Gesellschaft".
Doch mittlerweile werden die Schuldenregeln nicht nur im linken Lager kritisch gesehen. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) stellt die schwarze Null infrage, das von den Arbeitgebern finanzierte Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) in Köln auch die Schuldenbremse in ihrer heutigen Form.
Dabei durfte der Ruf nach einem sparsamen Staat lange auf keiner Wirtschaftstagung fehlen. Auch in der Politik galt die Reduzierung der Staatsschulden bislang als wichtiges Ziel. Woher also kommt der Meinungswandel? Vier Erklärungen:
1. Ihre wichtigste Funktion haben die Schuldenregeln schon erfüllt
Als die Schuldenbremse 2009 ins Grundgesetz geschrieben wurde, steckte Deutschland tief in der Finanzkrise. Mit Milliardensummen mussten erst heimische Banken und später dann auch noch andere Euroländer gestützt werden, die sich selbst nicht mehr finanzieren konnten. Die Sorge war groß, dass auch Deutschland sich so stark verschuldet, dass es nicht mehr handlungsfähig ist. Die Schuldenbremse und später auch die Politik der schwarzen Null sollten diese Sorgen eindämmen.
Tatsächlich konnte der deutsche Staat seine exzellente Bonität bewahren. Kaum ein anderes Euroland wird von den Rating-Agenturen so gut eingestuft. Inzwischen zahlen Investoren sogar drauf, um ihm Geld zu leihen. Auch die Staatsschulden sinken erstmals seit Jahrzehnten - und mit ihnen der Druck, weiterhin den haushaltspolitischen Musterknaben zu geben.
2. Die Folgen des Sparkurses werden sichtbarer
Von Zugausfällen wegen maroder Strecken bis zu Dauerpannen bei der Flugbereitschaft der Bundesregierung: Die Folgen unzureichender Investitionen wurden in Deutschland zuletzt immer wieder deutlich. Im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung investiert die Bundesrepublik laut einer Studie des Ifo-Instituts schon lange deutlich weniger als andere Länder. Um den Durchschnitt der Industriestaaten zu erreichen, müsste der Staat seine Ausgaben demnach um mindestens 40 Prozent erhöhen.
Die Investitionsmisere lässt sich allerdings nicht allein auf die Sparpolitik schieben, zumal sie deutlich vor der Verpflichtung auf Schuldenbremse und schwarze Null begann. Doch nach Ansicht der Kritiker wird das Problem durch die Sparvorgaben mindestens verschärft.

Wegen Rissen gesperrte Brücke bei Duisburg
Foto: Christoph Reichwein / DPASo kam das IW kürzlich in einer Studie zu dem Schluss, dass es deutschlandweit Probleme mit der Infrastruktur gebe. Viele Kommunen müssten teure Ausgaben übernehmen, hätten aber zugleich zu wenig Einnahmen. Die mitverantwortlichen Landesregierungen verwiesen "oftmals auf eigene Zwänge, nicht zuletzt durch die für sie ab 2020 geltende Schuldenbremse". Diese Problematik könnte sich noch verschärfen, wenn die deutsche Wirtschaft in die Rezession rutscht und die Politik eigentlich gegensteuern müsste.
Die Schuldenbremse soll auch der Tendenz entgegenwirken, dass Politiker im kurzfristigen Kampf um Wählerstimmen die langfristige Verschuldung erhöhen. Dieser sogenannte deficit bias droht nach Ansicht von Peter Bofinger, früheres Mitglied der sogenannten Wirtschaftsweisen, nun durch ein disinvestment bias abgelöst zu werden: der Neigung, im Zweifel lieber nicht zu investieren - obwohl es notwendig wäre.
3. Erst jetzt wird es mit den Regeln wirklich ernst
Die Schuldenregeln haben der deutschen Politik lange relativ wenig Kopfzerbrechen gemacht. EU-Vorgaben wie die Defizithürde in den Maastricht-Kriterien (siehe Überblick) waren nicht mit ernst zu nehmenden Sanktionen verbunden. Deutschland gehörte denn auch zu den ersten Ländern, die sie verletzten. Zur Begründung sagte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), man habe die Folgen der Agenda 2010 abfedern müssen.
Als später verschärfte Vorgaben wie der Fiskalpakt oder die Schuldenbremse griffen, befand sich Deutschland längst wieder im Aufschwung. Weil die Steuereinnahmen in den vergangenen Jahren stetig wuchsen, konnte der Finanzminister trotz steigender Ausgaben ohne größere Probleme die schwarze Null erreichen. "Die scheinbar eindrucksvollen Konsolidierungserfolge der Bundesregierung verdanken sich nahezu ausschließlich den günstigen Wirtschaftsbedingungen und Einmaleffekten", heißt es in einer Studie des gewerkschaftsnahen IMK-Instituts.

Symbolische Schuldenbremse vor dem Finanzministerium (2011)
Foto: Rainer Jensen / DPAWenn die Wirtschaft nun aber langsamer wächst oder gar schrumpft, werden die Steuerreinnahmen entsprechend zurückgehen. Zugleich könnten neue Ausgaben auf die Regierung zukommen. Dann wird es deutlich schwieriger, ohne neue Schulden auszukommen.
4. Die Jungen haben andere Sorgen
Die europäische Schuldenkrise war auch ein Generationenkonflikt. In Ländern wie Griechenland oder Italien hatten viele Ältere von einem Staat profitiert, der mithilfe von Schulden aufgebläht wurde. Die Folgen der anschließenden Krise trugen hingegen überproportional die Jüngeren - etwa durch eine massiv gestiegene Jugendarbeitslosigkeit und Finanzhilfen, die noch in Jahrzehnten zurückgezahlt werden müssen.
Durch die "Fridays for Future"-Bewegung ist nun eine andere Form von Generationenkonflikt in den Fokus gerückt: Aus Sorge um ihre Zukunft fordern Jugendliche von der Politik, die Bemühungen um den Klimaschutz massiv auszuweiten. Das könnte teuer werden. Allein bis 2023 meldeten andere Ressorts beim Finanzministerium bislang Klimaschutzvorhaben im Umfang von 32 Milliarden Euro an. Nicht zuletzt die Aussicht auf diese Mehrausgaben lässt die Bundesregierung nun langsam von der schwarzen Null abrücken.
Zumindest bei den jungen Klimaaktivisten dürfte sie damit auf wenig Gegenwehr stoßen. "Wir können nicht für die Zukunft lernen, wenn wir keine haben", lautet eine Begründung für die weitverbreiteten Schulstreiks. Etwas abgewandelt könnte sie bald lauten: Warum für die Zukunft sparen, wenn wir dann keine haben?