Schwacher Jobmarkt Arbeitsagentur-Chef prophezeit Schrumpflöhne

Opel-Motoren in Rüsselsheim: Strukturwandel durch Krise beschleunigt
Foto: Frank Rumpenhorst/ dpaHamburg - 2011 ist das Jahr der Wahrheit auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Die Wirtschaft glänzt mit einem rasanten Wachstum, das Vorkrisenniveau ist nahezu erreicht: beste Voraussetzungen also für einen kräftigen Jobaufbau. Jetzt wird sich zeigen, wie gesund die Beschäftigungsstruktur in Deutschland wirklich ist.
Doch während die Bundesregierung schon von möglicher Vollbeschäftigung spricht, mahnt Frank-Jürgen Weise zu Vorsicht. "Bei den Arbeitsplätzen im verarbeitenden Gewerbe haben wir das Vorkrisenniveau trotz des Aufschwungs noch nicht wieder erreicht", sagt der Chef der Bundesagentur für Arbeit im Interview. Schlimmer noch: Der Strukturwandel in der Industrie habe sich durch die vergangene Wirtschaftskrise verschärft. Weises Fazit: "Es wird keinen Job-Boom in der Breite geben."
Der Experte sieht sogar die Gefahr, dass die Erfolge auf dem Jobmarkt durch die Euro-Krise zunichte gemacht werden können. Wenn aus den Euro-Ländern, in die Deutschland exportiert, keine Impulse mehr kämen, "wird es schwierig".
Im Interview spricht Weise über die langfristigen Trends auf dem Arbeitsmarkt, Hartz IV und unsichere Beschäftigungsverhältnisse:
SPIEGEL ONLINE: Die deutsche Konjunktur brummt, die Zahl der Arbeitslosen ist auf einem Niedrigstand. Doch in Europa geht die Angst vor der Schuldenkrise um. Müssen sich die Beschäftigten Sorgen machen?
Weise: Bei aller Freude über die aktuelle gute Entwicklung: Die Lage auf dem Arbeitsmarkt bleibt unsicher. Die Schuldenkrise ist eine Gefahr für die deutsche Konjunktur. Die Risiken kommen aus den Euro-Ländern, in die wir exportieren und die für unseren Aufschwung mitverantwortlich sind. Wenn von dort keine Impulse mehr kommen, wird es schwierig.
SPIEGEL ONLINE: Was können Sie tun?
Weise: Der Arbeitsmarkt wird starken Schwankungen ausgesetzt sein. Je nach Auftragslage der Unternehmen müssen wir bei der Vermittlung schneller denn je reagieren. Wir müssen stets im Blick haben, wo Leute gebraucht werden und wo sich die Lage verschlechtert.
SPIEGEL ONLINE: Würde es Sie entlasten, wenn sich Länder wie Portugal und Spanien unter den Rettungsschirm begäben?
Weise: In der Euro-Krise ist so viel Psychologie im Spiel, dass es von mir als Behördenchef gedankenlos wäre, dazu Stellung zu nehmen.
SPIEGEL ONLINE: Die Krise könnte sich verschärfen, wenn sich die europäischen Staats- und Regierungschefs nicht auf ein gemeinsames Handeln einigen. Sehen Sie diese Gefahr?
Weise: Es ist auf jeden Fall zu begrüßen, wenn die Verantwortlichen entschlossen und zügig auf die Probleme reagieren würden. Das ist seitens der Bundesregierung bisher glücklicherweise der Fall gewesen. Bislang haben die deutsche Wirtschaft und der deutsche Arbeitsmarkt von einem gesunden gemeinsamen Europa sehr profitiert.
SPIEGEL ONLINE: Sie warnen vor den Folgen der Schuldenkrise für die Exportwirtschaft. Doch in der Industrie sind schon in der vergangenen Krise mehr als 150.000 Stellen verloren gegangen. Geht der Jobabbau jetzt weiter?
Weise: Bei den Arbeitsplätzen im verarbeitenden Gewerbe haben wir das Vorkrisenniveau trotz des Aufschwungs noch nicht wieder erreicht. Im Gespräch mit Unternehmern höre ich häufig, dass sie Teile ihrer Produktion ins Ausland verlagern. Daraus schließe ich: Der Strukturwandel ist durch die Krise beschleunigt worden. Sparten, die erst einmal abgewandert sind, kommen nach Deutschland nicht zurück.
SPIEGEL ONLINE: Was heißt das unterm Strich?
Weise: Wir werden in der Industrie die Wirtschaftsleistung steigern, aber nicht die Zahl der Arbeitsplätze.
SPIEGEL ONLINE: Sie rechnen in diesem Jahr im Schnitt mit drei Millionen Arbeitslosen nach 3,24 Millionen im vergangenen Jahr. Wo werden denn die Jobs entstehen, wenn nicht in der Industrie?
Weise: Im Dienstleistungsbereich und im Handel zum Beispiel. Es wird aber keinen Job-Boom in der Breite geben. In manchen Dienstleistungssparten gibt es schon jetzt viele offene Stellen, die zum Teil gar nicht besetzt werden können, weil Fachkräfte fehlen. Das gilt beispielsweise im Gesundheitswesen. Zum Teil sinkt die Arbeitslosigkeit nur deshalb, weil weniger Junge auf den Erwerbsmarkt drängen und mehr Alte in Rente gehen.
SPIEGEL ONLINE: Das klingt nicht sehr rosig: Dabei nimmt die Beschäftigung doch statistisch gesehen zu.
Weise: Es gibt eine klare Tendenz von der Vollzeit- zur Teilzeitstelle, auch die Zahl der Mini-Jobs nimmt zu. Das Arbeitsvolumen wird also auf mehr Menschen verteilt. Dieser Trend wird sich in diesem und in den kommenden Jahren festigen. Er geht einher mit der Zunahme der Zeitarbeit und einem Rückgang unbefristeter Stellen.
SPIEGEL ONLINE: Was bedeutet das für die Lohnentwicklung insgesamt?
Weise: Tendenziell dürften die Löhne niedriger ausfallen.
SPIEGEL ONLINE: Unsichere Jobs, weniger Einkommen: Ausgerechnet im Boomland Deutschland nimmt die Qualität der Arbeit ab.
Weise: Arbeit ist immer besser als Arbeitslosigkeit. Daher schätze ich einen beispielsweise befristeten Job nicht als gering ein. Das Ziel der Hartz-Reform war es, den Arbeitsmarkt flexibler zu gestalten. Immerhin haben so mehr Menschen eine Arbeit gefunden als vorher.
SPIEGEL ONLINE: Von der viele aber nicht allein leben können. Sie sind zusätzlich auf Hilfe vom Staat angewiesen.
Weise: Langfristig wird es sogar mehr Menschen geben, die einen Zusatzjob oder staatliche Zuschüsse brauchen. Aber das ist in der Regel eine Sache von wenigen Monaten. Und es wäre falsch, den Unternehmen daran die Schuld zu geben: Letztlich entscheidet doch jeder einzelne Kunde darüber, was gezahlt werden kann. Wenn wir nur die billigsten Produkte kaufen, wirkt sich das mittelbar auch auf die Löhne aus.
SPIEGEL ONLINE: Und das finden Sie in Ordnung?
Weise: Ich mache lediglich eine Feststellung. In erster Linie können wir froh sein, dass wieder so viele Menschen eine Stelle haben. Wäre dabei die Beschäftigungsstruktur auch gesund, würde ich mich noch mehr freuen.
"Ein Mindestlohn wäre eine Möglichkeit"
SPIEGEL ONLINE: Anfang Januar haben Sie gesagt: "Mit Arbeitslosen, die jetzt keine Arbeit finden, haben wir ein Problem." Was meinten Sie damit?
Weise: Es gibt viele Gründe, warum Menschen auch bei einer guten konjunkturellen Lage keine Stelle finden. Das fängt damit an, dass ein Schulabschluss fehlt, aber es können auch schwerwiegendere Probleme dahinter stecken, etwa eine Drogensucht. Es kann auch am Alter liegen. Da müssen wir ganz individuell und gezielter reagieren, um diesen Menschen zu helfen.
SPIEGEL ONLINE: Sie haben 2010 mehr als zwölf Milliarden Euro für diese individuelle Zuwendung ausgegeben, also für Eingliederungsmaßnahmen und Weiterbildung. Die Zahl der Menschen, die länger als ein Jahr ohne Arbeit waren, ist aber nur um drei Prozent zurückgegangen. Verschwendet die Bundesagentur für Arbeit unnötig Geld?
Weise: Bei den Arbeitsmarktinstrumenten haben wir zugegebenermaßen viel Spielraum für Verbesserungen. Wir sind im Gespräch mit der Politik darüber, dass man nicht so viele und detaillierte Instrumente braucht. Das soll in diesem Jahr politisch entschieden werden.
SPIEGEL ONLINE: Bei wie vielen Hartz-IV-Empfängern müsste man ehrlicherweise sagen: Hier lohnt es sich nicht mehr, Geld für Eingliederungsmaßnahmen auszugeben?
Weise: Von den knapp 900.000 Langzeitarbeitslosen würde ich keinen Fall per se als hoffnungslos beschreiben. Aber: Es gibt rund 490.000 Menschen, die seit Einführung von Hartz IV keinen einzigen Tag gearbeitet haben. Dahinter stecken meist schwere Schicksale. Die Gesellschaft muss die Frage beantworten, wie sie damit umgehen will.
SPIEGEL ONLINE: Eigentlich sollte der Regelsatz für Hartz-IV-Empfänger ab Januar um fünf Euro steigen. Noch aber steckt die Reform im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat. Wie sehr schadet das politische Gezerre den Langzeitarbeitslosen?
Weise: In erster Linie ist das ein normaler demokratischer Vorgang. Aber für Hartz-IV-Empfänger sind fünf Euro im Monat viel Geld, auf das sie jetzt warten müssen. Und für Familien fehlen ja noch die Gelder aus dem Bildungspaket. Das summiert sich und ist für die Betroffenen ärgerlich.
SPIEGEL ONLINE: Auch die Bundesagentur für Arbeit wird zusätzlich belastet.
Weise: Für die BA ist der administrative Aufwand hoch: Wir können uns nicht ideal vorbereiten, weil wir nicht wissen, wann die Reform endgültig beschlossen wird und wie sie dann aussieht.
SPIEGEL ONLINE: Ab wann können die Betroffenen frühestens damit rechnen, dass die Erhöhung ausgezahlt wird?
Weise: Wenn die Reform im Februar den Bundesrat passiert, können wir das Geld rückwirkend ab Januar frühestens im März auszahlen.
SPIEGEL ONLINE: Sicher ist dagegen, dass ab dem 1. Mai 2011 Arbeitnehmer aus Osteuropa freien Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt haben. Wie viele werden kommen?
Weise: Wir rechnen mit einigen Zugängen, aber nicht in einer Größenordnung, die den Arbeitsmarkt belastet, höchstens in grenznahen Gebieten. Was uns mehr sorgt, ist die neue Freizügigkeit bei den Dienstleistungen.
SPIEGEL ONLINE: Sie fürchten, dass osteuropäische Firmen ihre Mitarbeiter zu Niedriglöhnen in Deutschland einsetzen?
Weise: Wir beobachten, dass deutsche Zeitarbeitsunternehmen Niederlassungen in Polen oder in anderen Ländern gründen. Wir wissen nicht genau, wofür diese Niederlassungen sein sollen. Aber theoretisch könnten diese Firmen ab Mai ihre Mitarbeiter beispielsweise zu polnischen Tarifbedingungen in Deutschland einsetzen…
SPIEGEL ONLINE: …und damit eine Abwärtsspirale bei den Löhnen in Gang setzen.
Weise: Es könnte durchaus zu einer Verzerrung auf dem Markt kommen, die man so nicht akzeptieren darf. Ein deutscher Unternehmer ohne polnische Niederlassung kann bei Löhnen von drei, vier oder fünf Euro die Stunde nicht mithalten.
SPIEGEL ONLINE: Kann ein Mindestlohn helfen, ein Abrutschen der Löhne zu verhindern?
Weise: Das wäre eine Möglichkeit, aber das muss die Politik entscheiden.