
Jamaika und die Weltwirtschaft Vergesst die schwarze Null


Luftballons in den Jamaika-Farben der Grünen, FDP und Union
Foto: Michael Kappeler/ dpaWirtschaftspolitik hat eine Menge mit Glauben zu tun. Die Debatte ist durchzogen von Geschichten, die widerspruchslos hingenommen werden - weil sie als absolut richtig und wahr gelten. Das ist einerseits verständlich; wer alles ständig in Zweifel zieht, wird handlungsunfähig. Andererseits sind Glaubenssätze gefährlich; wer daran krampfhaft festhält, der lebt gefährlich.
Eine der wirkmächtigsten Gewissheiten der deutschen Wirtschaftspolitik besagt, dass die schwarze Null stehen muss. Unbedingt. Der Staat soll ein ausgeglichenes Budget ausweisen, möglichst einen kleinen Überschuss fahren. Bei den Jamaika-Koalitionssondierungen (die ab Montag fortgesetzt werden) haben es die schwarz-gelb-grünen Entsandten in der abgelaufenen Woche gerade nochmal bekräftigt. Das ist erstaunlich, aus zwei Gründen:
- Einerseits ist die schwarze Null im Grundgesetz verankert; 2009 wurde sie in Form der Schuldenbremse beschlossen. So gesehen haben die angehenden Jamaika-Koalitionäre sich zunächst mal darauf geeinigt, die Verfassung einzuhalten. Was eine Selbstverständlichkeit sein sollte.
- Andererseits muss man ernsthaft bezweifeln, ob die schwarze Null ökonomisch sinnvoll ist. In den nächsten Jahren können durchaus Situationen eintreten, in denen sich die Staaten in einem Ausmaß verschulden müssen, wie das bislang in Deutschland undenkbar ist. Aber dazu unten mehr.
Wie also steht es um das ökonomische Dogma von der schwarzen Null, wenn man es in ökonomische Argumente zerlegt?
Der deutsche Blick: mehr sparen!
Aktuell sieht es auf den ersten Blick so aus, als ob die schwarze Null nicht ambitioniert genug sei. Deutschland erlebt einen starken Aufschwung. Die Kapazitätsauslastung der Wirtschaft liegt deutlich über normal, und das schon mit steigender Tendenz seit rund vier Jahren, so haben es die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute kürzlich in ihrer Gemeinschaftsdiagnose vorgerechnet.
Die Indizien verdichten sich: Der Volkswirtschaft droht eine Überhitzung. Arbeitgeber können Stellen nicht besetzen (am Donnerstag gibt's neue Zahlen vom deutschen Arbeitsmarkt). Der Immobilienmarkt boomt. Der Export läuft. Konsumenten gehen einkaufen. Sogar die zögerlichen Unternehmen investieren wieder mehr.
In einer solchen Situation müsste der deutsche Staat eigentlich große Überschüsse einfahren, um die übersprudelnde Nachfrage zu dämpfen. Zumal, wenn die Europäische Zentralbank weiterhin mit billigem Geld die Konjunktur anschiebt. Tut er aber nicht: Der Überschuss liegt bei weniger als einem Prozent der Wirtschaftsleistung - eben eine schwarze Null, mehr nicht.
Aus rein nationalem Blickwinkel sollte der Staat jetzt die Gelegenheit nutzen und entschlossen Schulden abbauen. Die aufgelaufenen Staatsschulden betragen schließlich immer noch mehr als 60 Prozent des Sozialprodukts - 20 Prozentpunkte mehr als vor der Wiedervereinigung, 40 Prozentpunkte mehr als in den Fünfziger- und Sechzigerjahren.
Dies wäre die Chance, zu den Schuldenniveaus der guten alten Zeit zurückzukehren. Deutschland müsste eine Finanzpolitik im grünen Bereich betreiben, nicht im Bereich der schwarzen Null.
Wie gesagt, die Forderung nach einer strengeren Finanzpolitik entspringt allein der Logik der Binnenkonjunktur. Aber Deutschland ist keine Insel. Wir können nicht einfach tun und lassen, was wir wollen, ohne Rücksicht auf andere Länder.
Der globale Blick: mehr ausgeben!
Die außenwirtschaftliche Logik jedoch sieht komplett anders aus. Danach verbietet sich ein entschlossener Sparkurs geradezu.
Deutschlands unausgeglichene außenwirtschaftliche Bilanz ist schon jetzt ein Ärgernis. Wir haben den mit Abstand größten Überschuss weltweit: 275 Milliarden Dollar pro Jahr - viel mehr als China oder Japan.
Wir exportieren viel mehr als wir einführen. Außerdem wirft das gigantische Auslandsvermögen Zinsen ab, die nach Deutschland zurückfließen. Der Rest der Welt, insbesondere Amerika, ist nicht amüsiert.
Würde Deutschland auch noch in der Finanzpolitik auf die Bremse treten, etwa die Steuern erhöhen, würde sich dieser Überschuss noch weiter erhöhen, weil wir dann weniger importieren würden. Die Bundesrepublik müsste mit ernsten Konsequenzen rechnen, mit Strafzöllen und anderen Sanktionen.
Das ist die Lage: Die binnenwirtschaftliche und die außenwirtschaftliche Logik widersprechen sich völlig. Die eine Seite spricht für Sparen, die andere für Geldausgeben. Was tun?
Es braucht einen Kompromiss. Und als solcher ist die schwarze Null nicht die schlechteste Strategie. Sie ist eine pragmatische Lösung in einer aktuell spannungsreichen Gemengelage. Aber sie taugt nicht als Dogma.
Wirtschaftspolitik ist keine Sammlung von Ge- und Verboten mit Ewigkeitsgarantie. Sie ist das ständige Ringen um vernünftige Lösungen angesichts der gerade herrschenden Umstände. Wer hingegen vermeintliche Wahrheiten mit Tabus belegt, reagiert falsch oder zu spät, wenn die Wirklichkeit sich verändert.
Und die Umstände können sich radikal ändern. Es lohnt sich deshalb, sich gedanklich darauf vorzubereiten.
Die Zukunft: die nächste Krise kommt bestimmt
Hier ist eine Vorhersage: In der nächsten Rezession - und die kann früher kommen als wir derzeit ahnen - werden die Staaten massiv neue Schulden machen (müssen) und Geld in die Wirtschaft pumpen. Die Notenbanken werden diese Schulden aufkaufen, damit das Finanzsystem nicht zusammenbricht.
Warum? Weil diese Art der Konjunkturpolitik die einzig verbliebene Möglichkeit ist, einen tiefen Einbruch der Wirtschaftsleistung abzumildern.
Früher hätten die Notenbanken die Zinsen gesenkt und damit die Wirtschaft angekurbelt. Doch die Zinsen sind bereits historisch niedrig; die Notenbanken haben deshalb kaum noch Handlungsspielraum, wenn der nächste Abschwung kommt. (Achten Sie auf die Entscheidung der US-Notenbank Fed am Mittwoch.)
Früher hätten die Finanzminister die Kreditaufnahme erhöht und damit die Nachfrage gestützt. Doch viele Staaten sind so hoch verschuldet, dass sie im Falle einer heftigen Rezession rasch an ihre Grenzen stoßen werden. Sie sind dann auf die Unterstützung durch die Notenbanken angewiesen.
Die halbe Welt wird dann agieren wie Japan. Unter Premier Shinzo Abe läuft seit einigen Jahren das größte volkswirtschaftliche Experiment der Gegenwart. Regierung und Notenbank versuchen mit aller Macht, das Wachstum anzuschieben, ohne absehbares Ende. Die Staatsschulden liegen inzwischen bei über 250 Prozent der Wirtschaftsleistung; die Bilanz der Notenbank bläht sich immer weiter auf.
Das ist keine Schuldenbremse, sondern ein Schuldenturbo.
So finster dieses Szenario ist: Deutschland, eine offene Volkswirtschaft innerhalb der Eurozone, wird sich einem solchen internationalen Trend nicht entziehen können. Wie wird sich die Bundesregierung dann verhalten? Mit dem Dogma von der schwarzen Null jedenfalls wird sie dann nicht weiterkommen.
Wacklig wie die Zeiten sind, sollte die nächste Bundesregierung sich auf allerlei Unwägbarkeiten gefasst machen, die in den kommenden Jahren hereinbrechen können: die nächste Rezession, die nächste Schuldenkrise, geopolitische Verwerfungen, die nächste Flüchtlingskrise, das Auseinanderbrechen der EU oder einzelner Staaten (achten Sie auf die Entwicklungen in Katalonien in der nächsten Woche). All dies wird Auswirkungen auf die deutsche Finanzpolitik haben.
Regierungskunst bedeutet: auf Vorrat denken, Eventualitäten in den Blick nehmen, sich gedanklich vorbereiten auf das scheinbar Undenkbare. Dogmen und Glaubensbekenntnisse haben da nichts zu suchen.
Die wichtigsten Termine der kommenden Woche
MONTAG
Berlin - Auf dem Weg nach Jamaika I - Fortsetzung der schwarz-gelb-grünen Sondierungen. Auf der Tagesordnung die Themenblöcke: "Arbeit, Rente, Gesundheit, Pflege, Soziales" sowie "Familie, Frauen, Senioren, Jugend".
Berichtssaison I - Quartalszahlen von HSBC, Kuka, Audi, Mondelez.
DIENSTAG
Peking - Die Stimmung danach - Nach den großen Weichenstellungen des Parteikongresses in der Vorwoche veröffentlicht Chinas Statistikamt Zahlen zur Stimmung bei den Unternehmen.
Berichtssaison II - Quartalszahlen von Airbus, Ryanair, Paribas, Mastercard, Pfizer, Kellogg.
Luxemburg - Besserung, endlich! - Neue Zahlen zu Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit in der Eurozone und in der EU.
MITTWOCH
Washington - Yellen am Zug - Die Chefin der US-Notenbank Fed und der von ihr geleitete Offenmarktausschuss entscheiden über die weitere Geldpolitik.
Berlin - Auf dem Weg nach Jamaika II - Fortsetzung der schwarz-gelb-grünen Sondierungen. Auf der Tagesordnung die Themenblöcke: "Kommunen, Wohnen, Ehrenamt, Kultur, Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen" sowie "Landwirtschaft, Verbraucherschutz".
Berichtssaison III - Quartalszahlen von Tesla, BP, Facebook, Kraft Heinz.
DONNERSTAG
Nürnberg - Jobs, Jobs, Jobs - Die Bundesagentur für Arbeit legt die Zahlen vom deutschen Arbeitsmarkt im Oktober vor.
Berlin - Auf dem Weg nach Jamaika III - Fortsetzung der schwarz-gelb-grünen Sondierungen. Auf der Tagesordnung die Themenblöcke: "Wirtschaft, Verkehr", "Außen, Verteidigung, Entwicklungszusammenarbeit, Handel" sowie "Innen, Sicherheit, Rechtsstaat".
Berichtssaison IV - Quartalszahlen von Apple, Fresenius SE, Fresenius Medical Care, Fielmann, Hugo Boss, Sanofi, L'Oréal, Shell, Credit Suisse, Starbucks.
FREITAG
Berichtssaison V - Quartalszahlen von Evonik, Société Générale, Air France-KLM.
SONNTAG
Rom - (Noch) unsichtbare Grenzen - Regionalwahl auf Sizilien. Der Urnengang ist besonders spannend als Test für die spätestens bis Frühjahr 2018 anstehenden nationalen Parlamentswahlen. Im Norden werden die Abspaltungstendenzen stärker, im Rest des Landes punktet die populistische Fünf-Sterne-Bewegung.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels war von Koalitionsverhandlungen zwischen CSU, CDU, FDP und Grünen die Rede, die am Montag fortgesetzt werden. Bislang handelt es sich aber noch um Sondierungsgespräche. Wir haben die Stelle korrigiert.