
Leukerbad: Traumhafte Landschaft, bröckelnde Fassaden
Leukerbad nach der Pleite Das Schuldendorf der Schweiz
Hellbeiger Marmor, eine blau verspiegelte Fensterfront: Das Rathaus von Leukerbad macht einen imposanten Eindruck. 50 Millionen Franken hat der Bau gekostet. Am Eingang prangt in goldener Schrift der Name, der nicht mehr stimmt. Denn das Rathaus gehört heute zum Großteil der Kantonalbank. Der Bürgermeister residiert in einem weniger repräsentativen Gebäude, in der Schule von Leukerbad. Oder vielmehr: im Keller der Schule.
Mit seiner rot-schwarzen Sportjacke und dem verschmitzten Grinsen erinnert Gemeindepräsident Christian Grichting an einen Skilehrer, der im Nebenjob sein 1600-Einwohner-Dorf regiert. Tatsächlich ist Grichting Getränkehändler. Die Verwaltungsarbeit ist für ihn aber viel mehr als eine Nebentätigkeit. "Es geht um meine Existenz", sagt er. Und um die aller Bürger von Leukerbad, einem Ort, der quasi komplett vom Tourismus lebt.
Leukerbad ist kein gewöhnliches Dorf. Es ist die erste Gemeinde in der Schweiz, die ihre Schulden nicht mehr zurückzahlen konnte und pleiteging. In den neunziger Jahren verhob sich Leukerbad mit horrenden Investitionen. Das Geld floss in luxuriöse Thermen, Hotels, Bergbahnen und Parkhäuser. Die Schulden betrugen zeitweise 350 Millionen Franken, was etwa 200.000 Franken pro Einwohner entsprach.
Dann war plötzlich Schluss. Viele Geldgeber hatten darauf spekuliert, dass der Kanton einspringen würde. Doch die Mächtigen vom Wallis weigerten sich. Stattdessen stellten sie die Gemeinde unter Zwangsverwaltung. Es kam zum Schuldenschnitt: Die Gläubiger, vor allem Banken, mussten auf einen Großteil ihres Geldes verzichten. Doch die 22 Prozent der Forderungen, die Leukerbad nach dem Schuldenschnitt blieben, reichten aus, um die Gemeinde in die Krise zu stürzen.
Der Rat musste alles verkaufen - selbst das Rathaus. Auch andere Schweizer Gemeinden mussten bluten, weil sie über eine gemeinsame Emissionszentrale für die Schulden der Leukerbader hafteten.
In Leukerbad lässt sich mitten in Europa die Antwort auf die Frage finden: Was passiert eigentlich, wenn überschuldete Dörfer, Städte oder gar Länder nicht mit immer neuen Krediten gerettet werden - sondern sie tatsächlich pleitegehen? So wie ein ganz normales Unternehmen?
In Deutschland ist das nicht möglich. Im Falle einer Überschuldung einer Kommune kann es zwar zu einer Zwangsverwaltung durch die Kommunalaufsicht kommen. Eine Pleite ist aber ausgeschlossen, da die Bundesländer haften. Ohne diese Regel würde vielen deutschen Kommunen, vor allem in Nordrhein-Westfalen, drohen, was Leukerbad erlebt hat: eine Insolvenz.
Glitzernde Badetempel und bröckelnde Fassaden
Unter den Folgen leidet die Gemeinde bis heute. Zwar locken die traumhafte Landschaft auf 1400 Meter und die riesigen Thermalbäder nach wie vor Zehntausende Touristen in die Walliser Berge. Doch Leukerbad muss brutal sparen.
Die Gemeinde muss einen strengen Sanierungsvertrag erfüllen. Pro Jahr muss die Gemeinde 1,3 Millionen Franken zurückzahlen. Investieren dürfen Grichting und sein Rat gerade mal 900.000 Franken. Erwirtschaftet die Gemeinde einen höheren Überschuss, muss das Geld ebenfalls abgegeben werden.
"Wir dürfen keinen Kredit mehr aufnehmen", sagt Grichting, "wir müssen alles aus den laufenden Einnahmen bezahlen." Wozu das führt, zeigt sich beim Gang durch das Dorf. Es bietet eine seltsame Mischung aus unglaublichem Prunk und Ruinenflair: Wenige Meter neben der luxuriösen Alpentherme aus rotem Marmor und verspiegelten Scheiben steht das alte Hallenbad St. Laurent. Die Fassade bröckelt, die Scheiben sind so schmutzig, dass man kaum hineinschauen kann. Die Straßen sind übersät von Schlaglöchern, selbst die Hauptstraße vor dem Rathaus wurde nur notdürftig geflickt.
Gemeindepräsident Grichting kämpft deshalb beim Kanton dafür, den Sanierungsvertrag aufzulockern. "Wir haben den nun zehn Jahre lückenlos erfüllt und sogar mehr Geld zurückbezahlt als verlangt. Jetzt muss man was tun. Es macht ja keinen Sinn, wenn wir uns zu Tode sparen." Grichting nennt ein Beispiel: Mit einer Investition von 100.000 Franken könnte die Gemeinde an der Schule die schlimmsten Schäden beseitigen. Wenn er aber drei Jahre warten muss, bis das Geld da ist, kostet das gleich 300.000 oder 400.000 Franken. "Das holt uns doppelt und dreifach ein", sagt Grichting
Erstaunlich ist jedoch, wie gut der wichtigste Wirtschaftszweig von Leukerbad, der Tourismus, die Pleite des Ortes überstanden hat. Arbeitslose gibt es quasi nicht, nur kurzfristig außerhalb der Saison. Es gab kaum Wegzüge, die Bevölkerungsentwicklung ist stabil. Leukerbad ist sogar attraktiv für neue Bewohner, sagt Grichting, weil es einen Kindergarten und die Schule bis zur neunten Klasse gibt. Einzig die kommunalen Steuern liegen am oberen Limit des in der Schweiz Zulässigen.
"Dann hätte man schließen können"
Auch Richard Hug beklagt einen Investitionsstau. Der Tourismusdirektor verpackt dies aber in blumigere Worte als der hemdsärmelige Gemeindepräsident. "Anfang der neunziger Jahre gab es in Leukerbad etwas mehr als eine Million Übernachtungen", sagt Hug. "Mittlerweile sind wir bei knapp unter 800.000." Das ist immer noch recht stabil, wenn man bedenkt, wie die Gemeinde finanziell abgestürzt ist. Eine Lücke sieht Hug ausgerechnet bei den Vier- und Fünf-Sterne-Hotels. "Bei den Luxushotels haben wir einen Investitionsstau, da leiden wir", sagt er. Der deutsche Betreiber eines großen Vier-Sterne-Hotels will seinen Betrieb verkaufen, in den Schweizer Häusern hakt es am Generationenübergang.
Am Beispiel Leukerbad zeigt sich, dass eine Pleite für eine Kommune nicht in der Katastrophe enden muss. Zwar hat die Gemeinde heute durchaus Probleme durch den strengen Sanierungsplan und die geringen Möglichkeiten zu investieren. Insgesamt hat der Schweizer Ort die Krise aber recht gut überstanden. Und zahlen mussten für die Pleite vor allem die Geldgeber, also Banken und Versicherungen, die den damaligen Lokalpolitikern fahrlässig massive Kredite gewährt hatten.
Tourismuschef Hug ist optimistisch, was die Zukunft angeht. "Zu uns kommen die Gäste im ganzen Jahr, nicht nur zum Skifahren", sagt er. Sein Büro befindet sich immer noch im luxuriösen Rathaus. Die Tourismusabteilung wurde 1998 direkt saniert. Da gab es keine Diskussion. "Alle Beteiligten waren sich bewusst, dass es ohne Tourismus kein Überleben geben würde. Dann hätte man den Ort schließen können."