Soziale Spaltung Immer mehr Arbeitslose rutschen sofort in Hartz IV

Arbeitsagentur in Ludwigsburg: Das deutsche Sozialsystem verändert sich rapide
Foto: Thomas Kienzle/ APMünchen - Die Zahlen belegen, wie tiefgreifend sich das deutsche Sozialsystem in den vergangen Jahren verändert hat: Jeder vierte Beschäftigte, der arbeitslos wird, ist inzwischen sofort auf Arbeitslosengeld II (Hartz IV) angewiesen. Das heißt: Diese Bürger - im November waren es 61.000 pro Monat - erfüllen die Voraussetzungen nicht, um das höhere Arbeitslosengeld I (ALG I) zu bekommen.
Die Zahlen stammen aus einer Analyse der Bundesagentur für Arbeit, über die die "Süddeutsche Zeitung" berichtet. Demnach ist die Zahl der neuen Arbeitslosen, die direkt in die Grundsicherung abrutschen, in den vergangenen drei Jahren stark gestiegen. Dabei handele es sich häufig um Geringqualifizierte, knapp ein Drittel war laut BA zuvor als Leiharbeiter tätig.
Worum es geht: Im Zuge der Hartz-Reformen der rot-grünen Regierung wurde das Sicherungssystem grundlegend verändert. Auch wer viele Jahre gearbeitet hat, bekommt nun nur noch maximal zwölf Monate ALG I, Jobsuchende über 55 Jahre maximal 18 Monate. Grundsätzlich liegt die Höhe bei 60 Prozent des alten Nettolohns, wer Kinder hat, bekommt einen höheren Satz von 67 Prozent. Ein Beispiel: Ein lediger Erwerbstätiger ohne Kinder, der 2500 Euro brutto verdient hat, kommt nach dem Jobverlust auf knapp 950 Euro ALG I.
Allerdings gelten gewisse Bedingungen: Einen Anspruch auf ALG I hat nur, wer innerhalb der letzten zwei Jahre vor Verlust seines Arbeitsplatzes mindestens ein Jahr in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat. Viele Geringverdiener erreichen zudem nicht die Schwelle, ab der ihr Anspruch über der Grundsicherung liegt. Ein alleinstehender Hartz-IV-Empfänger bekommt 364 Euro monatlich.
Was ist Hartz IV?
Hartz IV ist die größte und umstrittenste Arbeitsmarktreform in der Geschichte der Bundesrepublik. Benannt ist sie nach dem damaligen Volkswagen-Personalchef Peter Hartz, der als Leiter einer Regierungskommission die Grundlagen der Reform vorgeschlagen hatte. Am 1. Januar 2005 trat das entsprechende Gesetz in Kraft.
Kernpunkt der vieldiskutierten Gesetze ist die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu einer einheitlichen Grundsicherung. Davor hatten sich die bundeseigenen Arbeitsagenturen und die kommunalen Sozialämter die Betreuung von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern geteilt. Das Nebeneinander von zwei unterschiedlichen Systemen wurde abgeschafft, erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger sollten nach dem Prinzip "Fördern und Fordern" in die aktive Arbeitsvermittlung eingebunden werden.
Empfänger der früheren Arbeitslosenhilfe erhalten ebenso wie arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger die gleichen Bezüge: das sogenannte Arbeitslosengeld II. Vereinfachend wird das Arbeitslosengeld II oft auch als "Hartz IV" bezeichnet. Die Bezüge orientieren sich an der früheren Höhe der Sozialhilfe. Pro Monat beträgt die Leistung 359 Euro - Unterkunft, Heizung und sonstige Zulagen nicht eingeschlossen.
Mit Hartz IV soll eine intensivere Betreuung bei der Suche nach einem neuen Job verbunden sein. Zugleich wurden aber auch die Zumutbarkeitskriterien verschärft. Prinzipiell gilt jede legale Arbeit als zumutbar, auch wenn sie deutlich unter Tarif bezahlt wird. Wer Jobangebote ausschlägt, muss erhebliche finanzielle Kürzungen in Kauf nehmen.
Die BA-Zahlen zeigen, dass immer mehr neue Arbeitslose die Schwelle nicht mehr überwinden: "Entweder war die Beschäftigungszeit zu kurz, um Ansprüche zu erwerben, oder das früher erzielte Lohneinkommen war zu niedrig, um mit dem daraus abgeleiteten Arbeitslosengeldanspruch den Bedarf zu decken und muss mit Arbeitslosengeld II aufgestockt werden", zitiert die "SZ" aus dem Papier.
Nach Angaben der Bundesagentur verloren in den vergangenen zwölf Monaten bis Ende November 2011 etwa 2,8 Millionen Beschäftigte ihren Job. 737.000 wanderten danach sofort ins Hartz-IV-System. Laut "SZ" sind Branchen mit vielen ungelernten Arbeitskräften besonders stark betroffen - also zum Beispiel das Gastgewerbe und Leiharbeiter.
Ein wesentliches Ziel der Hartz-Reformen war es, die Anreize für Arbeitslose zu erhöhen, sich wieder einen Job zu suchen. Doch der Umbau verschärft offenkundig auch das Risiko des sozialen Absturzes.
DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach sagte der "SZ", die Zahlen zeigten, "wie löchrig der Schutz der Arbeitslosenversicherung geworden ist und wie viele Menschen in prekären Jobs arbeiten müssen". Sie fordert, die Voraussetzungen für einen ALG-I-Anspruch zu lockern: "Dann könnte vielen Arbeitslosen Hartz IV erspart bleiben."
Die Säulen des Sozialsystems
Jeder Arbeitnehmer in Deutschland ist Pflichtmitglied der Arbeitslosenversicherung. Die Hauptleistung der Versicherung ist das Arbeitslosengeld I (ALG I), das einen Teil des ehemaligen Nettoeinkommens ersetzt und bis zu ein Jahr nach Verlust einer Stelle gezahlt wird. Für ältere Arbeitslose gelten Ausnahmen. Läuft die Zahlung des ALG I aus, ohne dass eine neue Stelle gefunden wurde, wird anschließend Arbeitslosengeld II (ALG II) gezahlt. Das Instrument - auch bekannt als Hartz IV - wurde im Jahr 2005 geschaffen, als die ehemalige Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengelegt wurden. Der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung beträgt derzeit 3,0 Prozent des Bruttolohns. Arbeitgeber zahlen diesen Satz auch für jeden Beschäftigten.
Es gibt zwei Arten von Krankenversicherungen - die Gesetzliche (GKV) und die Private (PKV). Rund 90 Prozent der Erwerbstätigen sind in der GKV pflichtversichert. Der Beitragssatz beträgt aktuell 15,5 Prozent für alle Versicherten. Zusätzlich können die Krankenkassen vom Einkommen unabhängige Beiträge erheben. Seit Anfang 2009 fließen alle Beiträge in einen Gesundheitsfonds, aus dem sie an die Kassen verteilt werden. Der Zugang zur PKV steht nur Selbstständigen und Arbeitnehmern oberhalb einer Einkommensgrenze offen.
Die Beiträge werden durch ein Umlageverfahren finanziert, bei dem die Berufstätigen die Leistungen der Rentner zahlen. Anhand der eingezahlten Beiträge wird die künftige Rentenhöhe errechnet. Zurzeit liegt der Beitragssatz bei 19,6 Prozent. Im Januar 2013 sinkt der Beitrag auf 18,9 Prozent. Das gesetzliche Renteneintrittsalter wird derzeit stufenweise von 65 Jahren auf 67 Jahre heraufgesetzt.
Die Pflegeversicherung ist die jüngste der Sozialversicherungen in Deutschland. Sie ist eine Grundversicherung, die einen Teil der Pflegekosten abdeckt.