Henrik Müller

Teurer werdende Produkte Wenn aus der Inflation aus Versehen eine Inflation der Schwäche wird

Henrik Müller
Eine Kolumne von Henrik Müller
Die Preise steigen derzeit so schnell wie seit Jahren nicht mehr. Die große Frage ist, ob die gebeutelten Staaten des Westens noch stark genug sind, diese Entwicklung zu bremsen.
Foto: Florian Gaertner / Photothek via Getty Images

Inflation kann aus drei Gründen entstehen: aus Versehen, aus Schwäche oder aus Absicht. Manchmal kommt es zu einer Verkettung dieser Faktoren. Die Frage ist, wo wir derzeit stehen.

So ist die Lage: Die Inflationsraten steigen. In Deutschland haben die Verbraucherpreise zuletzt mit einer Jahresrate von 3,8 Prozent angezogen. Tendenz steigend (neue Zahlen gibt es am Montag). Die Bundesbank  rechnet zum Jahresende mit Raten von vier bis fünf Prozent. Auch in der Eurozone insgesamt steigen die Preisindizes kräftig (neue Zahlen am Dienstag).

In den USA liegen die Inflationsraten schon über fünf Prozent. Die Notenbank Federal Reserve (Fed) bereitet sich, reichlich spät, auf einen Kurswechsel vor. Südkoreas Zentralbank hat in der abgelaufenen Woche bereits die Zinsen angehoben. In der Eurozone sind vergleichbare Schritte noch nicht in Sicht.

In vielen wohlhabenden Ländern geschieht derzeit etwas, das es seit längerer Zeit nicht gegeben hat: Die Preissteigerungen liegen über der Zwei-Prozent-Norm, die als erstrebenswerte Zielmarke gilt.

Inflation aus Versehen

Bislang haben wir es mit einer Inflation aus Versehen zu tun. Die gemessenen Preissteigerungen resultieren zum Teil aus einem statistischen Effekt, da im vorigen Jahr viele Güter durch die Coronakrise extrem billig waren und in Deutschland vorübergehend die Mehrwertsteuer gesenkt wurde. Der Vorjahresvergleich überzeichnet deshalb die tatsächliche Preisdynamik. Diese Effekte dürften in den kommenden Monaten auslaufen.

Doch die Wucht des Aufschwungs nach der Coronarezession war deutlich stärker als erwartet. Verschätzt haben sich auch viele Unternehmen. Entsprechend kommt es zu Produktions- und Personalengpässen. Das behindert die Produktion und treibt die Preise.

Eine Schlüsselrolle bei der Inflation aus Versehen spielen die Notenbanken. Auch sie können sich irren, und zwar ziemlich dramatisch. So wie in den Siebzigerjahren, als die Fed sich bemühte, eine vorausschauende Geldpolitik zu betreiben, die Lage der US-Wirtschaft jedoch systematisch falsch einschätzte – und am Ende zweistellige Inflationsraten produzierte.

Inflation aus Schwäche

Das Beispiel der Siebziger- und Achtzigerjahre zeigt auch, wie leicht eine versehentlich überschießende Inflation zu einer Inflation aus Schwäche werden kann. Damals kam es in vielen westlichen Ländern zeitweise zu Geldentwertungsraten von bis zu 20 Prozent. Die Teuerung, die von den Ölkrisen 1973 und 1980 angestoßen wurde, entwickelte eine Eigendynamik – weil die staatlichen Institutionen zu schwach waren, den inflationären Kräften entgegenzutreten.

Die USA, damals der Nabel der Weltwirtschaft, waren in den Siebzigern eine Nation, die geschockt war von einem verlorenen Krieg (Vietnam), von einem kriminell agierenden Präsidenten (Richard Nixon), von gesellschaftlichen Konflikten (die Auseinandersetzungen um die schwarze Bürgerrechtsbewegung und Studentenunruhen), von politischem Mord (an den Kennedys und Martin Luther King). Die Glaubwürdigkeit der Institutionen war angegriffen – das gesellschaftliche und politische Klima stand einer entschieden antiinflationären Geldpolitik durch die Fed entgegen.

Auch in Großbritannien lief damals die Inflation davon. Das Land galt zeitweise als unregierbar, geschüttelt von teils militanten Arbeiterprotesten, von religiös motiviertem Terror in Nordirland und von den Phantomschmerzen einer einstigen Weltmacht, die ihre Kolonien endgültig verloren hatte und nun auf das Format einer europäischen Mittelmacht geschrumpft war. Ähnlich war die Situation in anderen westlichen Ländern: Sie waren verunsicherte Nationen, die sich als unfähig erwiesen, dem Inflationsschub durch die steigenden Ölpreise Einhalt zu gebieten.

Deutschland gehörte damals zu den wenigen westlichen Ländern, die von der Entwicklung nur am Rande betroffen waren. Zwar stiegen auch hierzulande die Inflationsraten zeitweise auf mehr als sieben Prozent. Doch Deutschland entschied sich, bei der »Großen Inflation« nicht mitzumachen, wie es eine Studie  unter Mitwirkung von Otmar Issing, früher Chefökonom der Europäischen Zentralbank (EZB), formuliert hat. Insbesondere, weil die Unabhängigkeit der Bundesbank unangetastet blieb und sie mit einem straffen geldpolitischen Kurs gegensteuerte.

Unruhige Zeiten

Historische Vergleiche zur Gegenwart liegen nahe. Auch heute sind viele Gesellschaften verunsichert und polarisiert. Gründe gibt es reichlich: Der überhastete und blutige Abzug aus Afghanistan  offenbart die Schwäche des Westens und seiner Führungsmacht, den USA. Es ist erst ein paar Monate her, seit Donald Trump zum Sturm auf das Weiße Haus aufrief und sich Horden seiner Anhänger bereitwillig aufhetzen ließen. Die Black-Lives-Matter-Bewegung entlud sich in heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen – in rassistischen Spannungen, die lange überwunden schienen.

Nun regieren Joe Biden und die Demokraten mit hauchdünnen Mehrheiten. In gut einem Jahr sind schon wieder Parlamentswahlen, bei denen der Trumpismus abermals triumphieren könnte. Bidens kompromisslose Ausgabenprogramme lassen sich als Versuch interpretieren, eine zutiefst zerrissene Nation zu befrieden – damit ein übersprudelnder Aufschwung spürbar bei einer großen Mehrheit der Bürger ankommt. Risiken und Nebenwirkungen dieses Kurses, darunter steigende Inflationsraten, gelten nicht als vordringlichstes Problem eines Landes, das nur knapp am Abdriften in den Nationalchauvinismus vorbeigeschrammt ist.

Entsprechend hat sich die US-Notenbank Fed zwischenzeitlich vornehmlich um andere Dinge als Preisstabilität gekümmert. Noch vor Monaten hielt Chairman Jerome Powell Reden, in denen er sich zu Einkommensungleichheit und Chancengerechtigkeit äußerte, insbesondere mit Blick auf schwarze Beschäftigte. (Achten Sie am Freitag auf neue Zahlen vom US-Arbeitsmarkt.) Inflation war lange kein großes Thema für die Fed – was sich angesichts hoher Preissteigerungsraten derzeit rapide verändert.

Man kann nicht sagen, dass Europa viel besser dasteht. Auch in der EU sind die Demokratien wacklig geworden; Populismus grassiert; viele Länder werden von Minderheitsregierungen geführt. In Polen und Ungarn sind Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit bedroht, doch die EU hat bislang keine Mittel gefunden, gemeinsame Werte flächendeckend durchzusetzen.

Es ist ähnlich wie in den USA: Worauf sich alle Seiten verlässlich verständigen können, ist das Geldausgeben auf Pump. Der Corona-Aufbaufonds zum Beispiel bleibt hinter der dringend erforderlichen Neuordnung der EU-Finanzen zurück – er ist lediglich ein 750-Milliarden-Euro-Scheck. Dass die EZB nach wie vor in großem Umfang Staatsanleihen aufkauft, hilft bei der Finanzierung. Eine langfristig tragfähige Politik sähe anders aus.

Inflation aus Absicht

Die entscheidende Frage lautet: Sind die Institutionen heute stark genug, eine inflationäre Eigendynamik abbremsen zu können? Denn das wird nicht so einfach: Bei weiterhin steigenden Inflationsraten sollten die Notenbanken die Anleihekäufe rasch zurückfahren und die Zinsen nach oben bringen. Allerdings gerieten bei einem solchen Manöver hoch verschuldete Staaten und Unternehmen in arge Bedrängnis.

Hat sich eine inflationäre Dynamik erst mal verfestigt, kann sie in eine absichtliche Inflation abdriften – eine galoppierende Geldentwertung, die man laufen lässt, um die horrenden Schulden abzubauen. Es wäre ein extrem hässliches Szenario, das an die Hyperinflation der frühen 1920er-Jahre erinnert. Damals versuchten einige Verliererstaaten des Ersten Weltkriegs, darunter Deutschland, ihre Verbindlichkeiten mittels Gelddruckmaschine zu bedienen – das Ergebnis war ein Zusammenbruch der monetären Ordnung. Aktuelleres Anschauungsmaterial bieten Argentinien, Venezuela oder Zimbabwe.

Davon sind wir bislang weit entfernt. Und doch: Anders als in den Siebzigerjahren sind die Schuldenstände nach einer langen Phase niedriger Zinsen extrem hoch. Entsprechend reizvoll mag es erscheinen, die Inflation laufen zu lassen. Was tragisch wäre. Ein frühzeitiges Gegensteuern seitens der Notenbanken würde die Risiken begrenzen.

Rekordgewinne dank steigender Preise

Noch haben wir es mit einer versehentlichen Inflation zu tun. Doch die zieht inzwischen weitere Kreise. Die deutschen Erzeugerpreise gewerblicher Produkte sind im Juli mit einer Jahresrate von 10,4 Prozent gestiegen. Das Statistische Bundesamt  hat ausgerechnet, dass dies der höchste Anstieg der Einkaufspreise der Unternehmen seit 1975 war. Es war die Zeit, als die Große Inflation Fahrt aufnahm.

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Henrik Müller

Kurzschlusspolitik: Wie permanente Empörung unsere Demokratie zerstört

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29.03.2023 10.32 Uhr

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Verteilungskonflikte kündigen sich bereits an. Die neuen Preisspielräume bescheren großen Unternehmen üppige Gewinne. Im ersten Halbjahr 2021 haben die Dax-Konzerne Überschüsse eingefahren, die um 87 Prozent über dem Vergleichszeitraum 2019 (also vor der Vor-Corona-Krise) liegen, wie die Beratungsfirma EY ermittelt hat. Einige Firmen profitierten offenkundig von einem »außerordentlich günstigen Preisumfeld«.

Hohe Gewinne bei zunehmender Inflation wiederum stellen eine Konstellation dar, bei der die Gewerkschaften kaum anders können, als ein sattes Lohnplus zu fordern. Der Erhalt der Kaufkraft der Arbeitnehmer wird wieder zur tarifpolitischen Priorität. Das Ergebnis dieser Dynamik könnte eine Spirale sein, bei der sich Preis- und Lohnsteigerungen gegenseitig aufschaukeln. In den vergangenen Jahrzehnten war dieser Mechanismus kaum existent, denn die Globalisierung und die günstige Demografie wirkten dämpfend.

Nun kehren die Bedingungen zurück, unter denen eine Lohn-Preis-Spirale entstehen kann: Protektionismus, ein knapperes Potenzial an Arbeitskräften und jede Menge Liquidität. Wie die Erfahrungen der Siebziger- und Achtzigerjahre zeigen, ist es schwierig, die Spirale zu bremsen, wenn sie erst einmal in Fahrt gekommen ist.

Die wichtigsten Wirtschaftstermine der bevorstehenden Woche

Wiesbaden – Deutsche Inflation – Das Statistische Bundesamt legt eine erste Schätzung für die Steigerung der Verbraucherpreise im August vor.

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