Streit über Regelsätze Hartz-IV-Forscher springen Westerwelle bei

Suppenküche in Berlin: Arbeitslosen-Betreuer
Foto: Sean Gallup/ Getty ImagesHamburg - Der Arbeitslose ist Ende 20, trägt Piercings und riecht ein wenig merkwürdig. Er hat eine zerrissene Hose an, seine Kleider sind alt und wurden schon lange nicht mehr gewaschen. Seit ein paar Tagen hat das Jobcenter seinen Hartz-IV-Satz gekürzt - weil der Mann so gar keine Bereitschaft zeigte, sich einen Job zu suchen. Deshalb sitzt er jetzt vor seiner Betreuerin. Er bittet um mehr Geld.
Solche Szenen erleben die sogenannten Fallmanager bei der Arbeitsagentur immer wieder. Manchmal kommen ihre Kunden auch gar nicht mehr. Reagieren weder auf Briefe noch auf Einladungen - auch wenn ihnen die Mittel gekürzt werden. Eine kleine Finanzspritze ist schließlich besser als gar keine. Und die Fragen der Betreuer aus dem Jobcenter sind lästig.
Es gibt auch Geschichten von Familien, die sich über Generationen vom Staat ernähren lassen. "Wenn die Eltern schon von Sozialhilfe gelebt haben, kennen die Kinder nichts anderes", sagt eine Fallmanagerin aus Stendal in Sachsen-Anhalt. Vor allem Jugendliche ließen dann manchmal jeden Sinn dafür vermissen, dass die monatlichen Überweisungen nicht selbstverständlich, sondern nur gegen regelmäßige Bemühungen auf dem Jobmarkt zu haben sind.
Wenn es zu Sanktionen und Kürzungen komme, reagiere manch einer ruppig, sagt die Frau. Es habe schon Tumulte gegeben. "Ich musste auch Hausverbote erlassen."
Ein regulärer Job lohnt sich oft nicht
Es sind Berichte wie diese, die Guido Westerwelles umstrittene These zu bestätigen scheinen: Das Hartz-IV-Prinzip "Fördern und Fordern" ist grandios gescheitert. Weil sich Arbeiten aus Sicht vieler Hartz-IV-Empfänger einfach nicht lohnt.
"Was sagt eigentlich die Kellnerin mit zwei Kindern zu Forderungen, jetzt rasch mehr für Hartz IV auszugeben?", fragte der FDP-Chef in einem Gastbeitrag für die "Welt". "Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein" - mit solchen Sätzen entfachte er eine hitzige Debatte und legte in den vergangenen Tagen mehrmals nach.
Der polemische Tonfall mag fehl am Platz sein. Doch tatsächlich geht es im Kern um ein Problem, das Betreuer von Arbeitslosen kennen. Warum soll sich ein Arbeitslosengeld-II-Empfänger dem oft deprimierenden Bewerbungs- oder Qualifizierungsmarathon stellen, wenn er mit einem Vollzeitjob genauso viel oder nur wenig mehr Geld verdienen würde wie mit Hartz IV?
Dass sich ein regulärer Job für viele Arbeitslosengeld-II-Empfänger nicht auszahlt, zeigt eine neue Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW). "Das Hartz-IV-System wirkt wie eine Falle, in der sich Arbeit nicht lohnt", lautet die Schlussfolgerung der Forscher.
"Ginge es nur ums Geld, gäbe es keine Friseurinnen mehr"
Das zentrale Ergebnis der Untersuchung: Vor allem gering Qualifizierte verdienen mit einem Vollzeitjob oft nicht viel mehr als Hartz-IV-Empfänger. Regional gesehen sind die neuen Bundesländer besonders stark von dem Problem betroffen. Und am schlimmsten dran sind ausgerechnet alleinerziehende Mütter mit geringer Qualifikation. Oder auch alleinverdienende Familienväter. Klaus Schrader, einer der Autoren der Studie, macht für SPIEGEL ONLINE zwei Beispielrechnungen auf:
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Eine alleinstehende 45-Jährige mit zwei Kindern und geringer Qualifikation, die in Ostdeutschland früher im Dienstleistungssektor tätig war, bringt es demnach mit Arbeitslosengeld II alles in allem auf 1498 Euro im Monat. Hat die Frau nebenbei noch einen 400 Euro-Job, dürfte sie davon weitere 160 Euro behalten.
Ihr potentieller Netto-Einstiegslohn bei der Rückkehr in einen Vollzeitjob beliefe sich dagegen nur auf 1392 Euro - das Kindergeld, das ihr dann zustehen würde, schon eingerechnet. Natürlich würde dieses Gehalt vom Jobcenter auf das Niveau des Arbeitslosengelds II angehoben. Aber, sagt Schrader: "Dafür muss die Frau den ganzen Tag arbeiten, die Kinder müssen betreut werden, eventuell kommen noch Fahrtkosten auf sie zu." Wie schwer gerade die Kinderbetreuung sein kann, berichtet auch eine Frankfurter Fallmanagerin: "Wir haben Frauen, die schon seit zwei Jahren auf einen Hortplatz warten." - Einem 45-jährigen Vater, dessen Ausbildung nicht allzu gut ist und der im Westen als Dienstleister für den Familienunterhalt sorgte, bevor er arbeitslos wurde, ergeht es nach der IfW-Rechnung wenig besser. Sein Arbeitslosengeld II würde sich auf 1738 Euro summieren - mit einem 400 Euro-Job könnte er so auf 1898 Euro kommen. Eine Vollzeitstelle brächte dem Haushalt inklusive Kindergeld 1830 Euro.
In vielen Arbeitsagenturen und Jobcentern will man trotz solcher Rechnungen die Hartz-IV-Empfänger nicht pauschal als Faulpelze abstempeln. Auch die Frankfurter Fallmanagerin erklärt lange, ihrer Erfahrung nach seien nur einzelne Personen tatsächlich nicht willens, sich noch um einen neuen Job zu bemühen. Bei Arbeit gehe es schließlich um mehr als nur ums Finanzielle. "Viele denken ja, sie können einfach nichts mehr", sagt die Betreuerin. "Wenn diese Menschen in eine Beschäftigung kommen, merkt man richtig, wie die Motivation wieder wächst."
Einer ihrer Kollegen aus einem anderen Bundesland sagte nüchtern: "Ginge es nur ums Geld, gäbe es im Osten keine Friseurinnen mehr." In manchen ostdeutschen Ländern verdienen Angestellte in Haarsalons nur wenige Euro pro Stunde. In Köln wurden vom Hauptzoll bei einer Untersuchung sogar Stundenlöhne von 1,50 Euro aufgedeckt.
"Wir haben ein Problem"
"Wir haben ein Problem", sagt der Wissenschaftler Alfred Boss vom IfW. "Es ist wichtig, dass es diskutiert wird."
Die Zeit drängt: Das Bundesverfassungsgericht hat die bisherige Berechnung des Regelsatzes von 359 Euro als grundgesetzwidrig eingestuft. Viele Kritiker von Hartz IV fordern deshalb eine Erhöhung der Sätze. Dann jedoch würde sich das Problem verschärfen - und der Anreiz, auch gering bezahlte Jobs anzunehmen, noch niedriger werden.
Im schlimmsten Fall würden so noch mehr Menschen in die Hartz-IV-Falle getrieben, sagt Boss. Der Ökonom hat einen Lösungsansatz, der auf den ersten Blick geradezu wahnwitzig erscheint: "Ich bin dafür, den Regelsatz zu kürzen und gleichzeitig von einem Zuverdienst mehr übrig zu lassen." Sollte der Arbeitslose selbst keine Arbeit finden, sei zum Beispiel eine Tätigkeit für die Kommune denkbar. "So könnte das Einkommen mindestens auf das jetzige Leistungsniveau erhöht werden." Er ist überzeugt: "Jeder kann beschäftigt werden, wenn man auch sehr niedrige Löhne zulässt."
Ähnliche Vorschläge hatten zuvor schon andere Wissenschaftler gemacht, unter anderem vom Münchner Ifo-Institut - politisch durchsetzbar sind sie wohl kaum.