EU-Streit über Sparkurs Wie Barroso sich kurz eine eigene Meinung erlaubte

Redner Barroso in Brüssel: Verträge sind wichtig
Foto: Julien Warnand/ dpaHamburg - Jede Institution hat ihre Gründungsmythen. Annahmen, die bestenfalls teilweise zutreffen, für die tägliche Arbeit aber unverzichtbar sind. Zu den Gründungsmythen der EU gehört es, dass hier Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern gemeinsam an der europäischen Einheit arbeiten - und ihre nationale Identität dabei keine Rolle mehr spielt.
Zweifel an dieser Annahme brechen immer mal wieder auf. Als etwa Mario Draghi EZB-Chef wurde, erschien die Megainflation so manchem Nordeuropäer bereits als beschlossen. Schließlich kommt Draghi aus Italien, wo zweistellige Teuerungsraten früher nichts besonderes waren. Umso bemühter ist Draghi, seine Seriosität zu betonen.
Auch José Manuel Barroso hat stets darauf geachtet, nicht primär als Portugiese wahrgenommen zu werden. Immerhin muss er als EU-Kommissionpräsident mehr als jeder andere den länderübergreifenden Konsens verkörpern. Seit Montag aber darf man vermuten, dass selbst Barroso seine nationale Identität nicht immer an der Garderobe abgibt.
Was ist passiert?
Bei einer Diskussionsveranstaltung in Brüssel übte Barroso vorsichtige Kritik an jener Sparpolitik, welche die EU bislang ihren kriselnden und vorwiegend südeuropäischen Mitgliedsstaaten verschrieben hat. Diese Politik sei zwar "grundsätzlich richtig", jedoch an ihre "Grenzen gestoßen", sagte Barroso. Nötig sei kurzfristig eine "stärkere Betonung von Wachstum".
Die Aufregung über die Äußerungen war vor allem in englischsprachigen Medien groß. "Ära des Sparens ist laut EU abgelaufen", hieße es in einer Meldung der Nachrichtenagentur Reuters. "Beschränkt die Sparsamkeit, sagt EU-Beamter", titelte das "Wall Street Journal".
Die empörte Reaktion der deutschen Politik ließ nicht lange auf sich warten. "Wachstum kann man nicht durch neue Schulden kaufen", warnte Außenminister Guido Westerwelle (FDP). Herbert Reul, als Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe im Europaparlament immerhin Mitglied derselben Parteifamilie wie Barroso, polterte gar: "Der Kommissionspräsident stellt die Euro-Rettung in Frage."
Die Aufregung dürfte auch deswegen so groß sein, weil man solche Kritik von Barroso am wenigsten erwartet hatte. Der Kommissionpräsident gilt als blass und ist in der Euro-Krise bislang nicht mit klaren Positionierungen aufgefallen - schon gar nicht gegen die deutsche Bundeskanzlerin, der er zu großen Teilen seine umstrittene Wiederwahl verdankt.
Die Kritik am Sparkurs wächst
Hat Barroso nun also wirklich den großen Kurswechsel eingeleitet? Völlig überraschend wäre das nicht, schließlich mehrt sich angesichts der nach wie vor tiefen Rezession in vielen Krisenländern die Kritik an der Sparpolitik. Dass vor wenigen Tagen auch noch gravierende Fehler in einer gerne von Sparbefürwortern zitierten Studie auftauchte, passt da nur ins Bild
Doch bei der EU-Kommission will man von einer Kehrtwende nichts wissen. Barroso habe sich auf keinen Fall für ein Ende der Sparpolitik oder neue Schulden ausgesprochen, heißt es aus Kommissionskreisen. Richtig sei lediglich, dass er stärker als bislang Wert auf Wachstum gelegt habe. Dies solle aus Strukturreformen und der gezielteren Verwendung von EU-Fördermitteln kommen, heißt es.
Das allerdings sind keine neuen Vorschläge. Die Reformen waren von vorneherein Teil der Rettungspakete, die effizientere Verwendung von EU-Mitteln soll eine Expertengruppe in Griechenland bereits seit 2011 voranbringen. Dass auch Zypern nun vorgezogene Zahlungen aus den Strukturfonds bekommen soll, ist im großen EU-Rettungsdrama eine Randnotiz.
Komplett missverstanden wurde Barroso dennoch nicht. Die EU verhandelt seit längerem mit mehreren Ländern darüber, ob diese mehr Zeit zum Erreichen ihrer Defizitziele bekommen. Dazu gehört neben Griechenland, Portugal und Spanien auch Frankreich.
"Der Vertrag bedeutet nichts"
Außer einzulenken dürfte der Kommission auch wenig übrig bleiben: Nahezu zeitgleich mit Barrosos Äußerungen wurden neue Zahlen bekannt, laut denen die Neuverschuldung der Krisenländer sich weiter erhöht hat. In Griechenland lag sie im vergangenen Jahr bei zehn Prozent - die EU-Kommission hatte 6,6 Prozent erwartet. Auch in Barrosos Heimat sieht es nicht gut aus: Portugals Defizit stieg auf 6,4 statt der von der EU erwarteten 5,0 Prozent. Dabei galt das Land lange als Musterschüler bei Reformen.
Schon denkbar, dass Barroso angesichts dieser Vorzeichen danach war, den eigenen Landsleuten eine Lockerung der Sparauflagen in Aussicht zu stellen - zumal er bei seiner südeuropäischen Ehre gepackt. Laut einem eilig von der Kommission bereitgestellten Transkript der Diskussionsveranstaltung warf die Moderatorin Matina Stevis der Kommission mangelndes Engagement vor. Barroso und seine Mitstreiter beschränkten sich in der Krise darauf, über die Einhaltung der europäischen Verträge zu wachen
"Es ist dem Athener egal, dass Sie der Wächter des Vertrags sind", polterte Stevis. "Der Vertrag bedeutet nichts. Sie sollen der Wächter dieses Bürgers sein, ihres Landsmanns in Lissabon." Die Moderatorin machte deutlich, dass sie Barroso persönlich meint: "Das ist ein existentieller Moment für Sie, mein Herr".
Barroso erklärte daraufhin der Abschrift zufolge ausführlich, warum Verträge sehr wohl etwas bedeuten - schließlich habe erst ihr Bruch zur Krise geführt. Dann erst machte er jene Äußerungen, die jetzt als Abkehr vom Sparkurs interpretiert werden. Dabei dürfte nicht nur Barrosos Herkunft eine Rolle gespielt haben, sondern auch die von Stevis. Die Journalistin arbeitet für Dow Jones und das "Wall Street Journal" und ist selbst gebürtige Griechin. Als ihr Plädoyer für die Interessen der Griechen kurz darauf über Twitter lief, kommentierte die Journalistin stolz: "Hey! Das war ich!"
Das hätte Barroso auch sagen können, schließlich sorgt er sonst selten für Schlagzeilen. Doch der ohnehin vorsichtige Vorstoß wurde schnell wieder zurückgenommen. Die Berichte über ein Ende des Sparkurses seien "keine faire Wiedergabe dessen, was er gesagt hat", erklärte am Dienstag ein Kommissionssprecher.