"Stuttgart 21" Baubranche verzweifelt an Deutschland

Baustelle am Stuttgarter Bahnhof: Bedeutung des Heimatmarktes schrumpft
Foto: Marijan Murat/ picture alliance / dpaHamburg - Die Ausschreibung 2010/S 137-211193 ist ein Auftrag, wie es ihn in Deutschland nicht oft gibt. Eine Million Kubikmeter Erde soll der Gewinner aus der Stuttgarter Innenstadt wegschaffen, das entspricht einem Würfel mit einer Seitenlänge von 100 Metern oder etwa 70.000 Lkw-Ladungen. Dann soll ein unterirdischer Bahnhof samt hochkomplexer Dachkonstruktion und angrenzendem Tunnel entstehen.
Auf etwa eine Milliarde Euro taxieren Kenner den Auftragswert beim Bau des Herzstücks des Bahnprojekts "Stuttgart 21". Kein Wunder, dass quasi jeder für das Geschäft geboten hat, der in der europäischen Bauszene Rang und Namen hat. Am 14. Februar soll es losgehen, um den Jahreswechsel könnte der Auftraggeber, die Bahn-Tochter DB ProjektBau GmbH den Ausschreibungssieger verkünden.
Die Vorfreude auf den großen Coup hält sich in der Baubranche jedoch in Grenzen. Zehntausende demonstrieren inzwischen gegen das Vorhaben, und obwohl die Planungen längst abgeschlossen sind, die politischen Gremien zugestimmt und die nötigen Gelder bewilligt haben, will die Opposition aus SPD und Grünen das Projekt im Falle eines Sieges bei der Landtagswahl im kommenden März in Frage stellen. Die "Gefühlslage" sei angespannt, heißt es bei einem Bauunternehmen, das sich für den Auftrag interessiert.
Bei "Stuttgart 21" geht es für die deutsche Baubranche um viel. Zwar könnte es jedes einzelne Unternehmen verschmerzen, nicht zum Zug zu kommen. Doch das Projekt steht für mehr. Scheitert das Vorhaben, hätten Großprojekte womöglich auch anderswo in Deutschland schlechtere Chancen. Die Firmen fürchten, dass Stuttgart Schule macht.
Bauverband: "Alles wird in Frage gestellt"
"'Stuttgart 21' droht zu einem Fanal für unsere Gesellschaft zu werden", sagt der Hauptgeschäftsführer des Hauptverbands der Deutschen Bauindustrie, Michael Knipper, dem manager magazin. "Setzen sich die Gegner durch, würde es bedeuten, dass wir kaum noch in der Lage sind, große Infrastrukturprojekte umzusetzen."
Das Wehklagen der Industrie über lange bürokratische Prozesse bei Bauvorhaben ist nicht neu, genausowenig wie das Phänomen, dass Bürger sich gegen große Projekte wehren. Bei "Stuttgart 21" ist eines jedoch anders: Zwar hat das Projekt formal alle demokratischen Hürden genommen. Trotzdem gibt es massiven Protest aus allen Bevölkerungsgruppen.
Es ist also nicht mehr eine Minderheit - beispielsweise aus dem linken Spektrum -, die sich gegen die Mehrheitsentscheidung im Parlament auflehnt. Die Folge: Die Verlässlichkeit politischer Entscheidungen geht zurück. "Durch die Ereignisse in Stuttgart wird womöglich alles in Frage gestellt", sagt Knipper mit Blick auf die langen, aber einigermaßen berechenbaren Planungsprozesse.
Spanien schützt seine Baukonzerne vor der Konkurrenz
Schon jetzt ist die Bedeutung des Heimatmarktes für die großen deutschen Baufirmen zusammengeschrumpft. Die Branche befindet sich hierzulande insgesamt in einem schleichenden Abschwung. Seit 1995 ist der Umsatz nach Angaben des Statistischen Bundesamtes von 123 Milliarden auf 85 Milliarden Euro gesunken. Die Zahl der Mitarbeiter hat sich von 1,46 Millionen auf 650.000 mehr als halbiert.
Kein Wunder, dass beispielsweise Hochtief 85 Prozent seiner Geschäfte im Ausland macht. "In Deutschland gibt es mit großen Bauvorhaben kaum Geld zu verdienen", sagt Analyst Marc Gabriel vom Bankhaus Lampe.
Dennoch habe es auch Vorteile für deutsche Firmen, um die Projekte vor der Haustür zu kämpfen und einen möglichen Heimvorteil - die Nähe zur Baustelle - auszuspielen. "Großvorhaben wie 'Stuttgart 21' können für das Image eines Konzern nützlich sein", sagt Gabriel. Doch die Branche fürchtet, dass solche Referenzprojekte immer seltener werden. "'Stuttgart 21' ist die Nagelprobe, ob große Vorhaben in Deutschland noch möglich sind", heißt es in einem Unternehmen.
Nur träumen können die deutschen Konzerne von Bedingungen, wie sie Großunternehmen in anderen Ländern vorfinden. In Spanien sind in den vergangenen Jahrzehnten Baukonzerne auch deshalb zu veritabler Größe herangereift, weil der Markt für Ausländer schwer zugänglich war.
"Durch ein enges Zusammenspiel der wenigen Baukonzerne mit der Politik konnten hohe Umsatzrenditen erzielt werden. Mit diesen Gewinnen werden heute deutsche Unternehmen gekauft", sagt Bauindustrie-Vertreter Knipper mit Blick auf die vom spanischen Konzern ACS geplante Übernahme des deutschen Konkurrenten Hochtief.
Knipper erwartet, dass sich die deutsche Baubranche angesichts des Ärgers um "Stuttgart 21" weiter vom Heimatland abwenden wird. "Wenn es hierzulande immer weniger Großprojekte gibt, werden die größeren deutschen Bauunternehmen ihr Geschäft noch stärker im Ausland - vor allem Asien - suchen müssen."
Damit gehe möglicherweise auch Wissen verloren - ein Prozess, der in den Augen von Zynikern angesichts der Pannen beim Bau der Kölner U-Bahn (Bilfinger Berger ) und der Hamburger Elbphilharmonie (Hochtief) bereits begonnen haben könnte. Knipper malt ein schwarzes Bild von der Zukunft der Bauindustrie in Deutschland. "Wenn wir nur noch den Bestand pflegen, wird es schwer, das Know-how für komplexe Großprojekte im Land zu halten."