
Stuttgart 21: Protest mit Menschenkette und Luftballons
Stuttgart 21 Volksfest statt Wutausbruch
Karl-Heinz Wilhelm hat für sich und seinen Tiger einen Platz im Schatten gesucht. Wegen der großen Hitze in Stuttgart. Der Asphalt am nördlichen Bahnhofsvorplatz schlägt einem die Wärme förmlich ins Gesicht. Doch der S21-Gegner lacht. Er sitzt am etwa 150 Meter langen Bauzaun auf seinem Klappstuhl und achtet darauf, dass niemand eines der vielen Anti-Stuttgart-21-Plakate entfernt. Er sei "Zaunpfleger", sagt Wilhelm. Er trägt einen großen Strohhut mit Sonnenblumen daran, rot-weiße Leinenhosen und dazu bunte Stricksocken. Sein Plüschtiger liegt neben ihm auf einem Kofferwagen. Zusammen hätten sie noch keine Demonstration verpasst. Und heute werde es "sicherlich wieder ganz groß werden", sagt er. "Mindestens 50.000"
Tatsächlich kamen bedeutend weniger Gegner des umstrittenen Bahnvorhabens Stuttgart 21 an diesem Nachmittag zur Kundgebung. Die Veranstalter selbst sprechen von 15.000 Menschen, die sich am Stuttgarter Bahnhof versammelten, um gegen dessen Tieferlegung zu demonstrieren. Die Polizei zählte gerade einmal halb so viele.
Doch von Enttäuschung keine Spur. Die Aktivisten fühlen sich stark. Der Widerstand lebt, genug getrickst, Baustopp und zwar sofort - so lauten ihre Parolen. Es war die wohl letzte Großdemonstration vor der Vorstellung der Ergebnisse des Stresstests. Man wollte da noch einmal Zeichen setzen.
"Oben bleiben, oben bleiben"
Allen voran Brigitte Dahlbender. Sie ist BUND-Landesvorsitzende. Die "Stuttgarter Nachrichten" nannte sie zuletzt "Chefin des Protests". Jetzt steht die blonde Frau auf einer Bühne vor dem Bahnhof und fordert die Bahn auf, alle absehbaren Kosten offenzulegen. "Wir lassen uns nicht über den Tisch ziehen", ruft sie ins Mikrofon. Die grün-rote Landesregierung fordert sie auf, offensiv zu handeln und sich von der Bahn "nicht länger an der Nase herumführen zu lassen." Das gelte auch für die Gesamtkosten des Projekts.
Immer wieder brandet Applaus auf, Pfiffe, Johlen, Bravo-Rufe. Vor der Bühne hat sich ein buntes Fahnenmeer gebildet. Gewerkschaften, Parteien, Verbände zeigen Flagge. Regelmäßig setzen "Oben bleiben, oben bleiben"-Chöre ein. Der Sound der Projektgegner.
Tatsächlich ist es wieder einmal eine bunte Protestgruppe, die sich da vor dem Bahnhof und im benachbarten Schlossgarten versammelt hat. Eine Gruppe Senioren aus Vaihingen an der Enz hat sich extra T-Shirts für diese Demonstration drucken lassen. Die Aufschrift: "Bitte nicht lügen, Deutsche Bahn". Eine Stuttgarterin hat mit Spielfiguren ihren "geliebten Kopfbahnhof" nachgebaut. Diese Miniaturausgabe des Bahnhofes trägt sie heute wie einen Bauchkasten vor sich her.
"Yes wie can"
Ein Student trägt ein blaues T-Shirt mit dem Konterfei von US-Präsident Barack Obama auf der Brust, darunter "Yes, we can - Stuttgart 21 stoppen". Flugblätter werden den Verteilern stapelweise aus den Händen gerissen. Man sieht junge Leute mit Vuvuzela-Tröten, schwarz-rot-goldener Schminke im Gesicht und einem Transparent mit der Aufschrift "Baustopp für immer!". Erst die Demo, dann das Viertelfinale der deutschen Fußballfrauen. Auch das ist Teil dieses Protests.
Dabei müssen die vergangenen Tage für Gegner wie Befürworter des Bahnprojekts wie eine Nachrichten-Achterbahnfahrt gewirkt haben. Erst streute die Bahn unter Journalisten, Stuttgart 21 habe den Stresstest bestanden. Dann entdeckte der SPIEGEL Dokumente, die belegen, dass die Bahn in den vergangenen Jahres systematisch die Kosten für das Megaprojekt geschönt hat. Und überrascht waren alle, als Schlichter Heiner Geißler nebenbei fallen ließ, der Bahnhof werde so oder so gebaut, um sich wenig später zu korrigieren. Zuletzt sorgte für Aufregung, dass die Polizei Räume von Projektgegnern durchsucht hat. Gesucht wurden Videos, die den Angriff von S21-Gegnern auf einen Polizisten zeigen sollen. Die Meldung, wonach die Veröffentlichung des Stresstests verschoben werde, löste unter S21-Gegnern wiederum große Freude aus. Man sieht die Bahn unter Druck.
"Wir werden uns nicht provozieren lassen"
Viel Zündstoff also. Kein Wunder, dass die Kundgebung im Vorfeld zu einer Art Endspiel hochstilisiert wurde. Doch der Nachmittag verlief ruhig, beinahe harmonisch. Die Demonstranten bildeten eine Menschenkette um den Bahnhof, ließen grüne Luftballons fliegen und spielten den Schwabenstreich: eine Minute schreien, klatschen, rufen so laut jeder kann. Volksfest statt Wutausbruch. "Liebe Freunde des Kopfbahnhofes, wir werden uns nicht provozieren lassen", betonte die Protestführerin Brigitte in ihrer Rede.
Am Abend sind viele Demonstranten in die Innenstadt zum Schlossplatz weiter gezogen. Dort findet an diesem Wochenende ein großes Kinder- und Jugendfest statt. Mit Bühnen und Livemusik. Andere liegen im Schlossgarten in der Sonne, gehen spazieren, singen zusammen. Dort taucht auch Karl-Heinz Wilhelm wieder auf, der Tigermann und Zaunpfleger. Wilhelm hält noch immer sein "Stopp S21"-Schild in der Hand. Er lächelt, nickt und fragt: "Gut war's, oder?"
Eine Antwort erwartet er nicht. Er geht einfach weiter.