Sozialstaat der Zukunft Was ein bedingungsloses Grundeinkommen bringt

Reichstag in Berlin (Archivbild)
Foto: imago/Ralph PetersEin bedingungsloses Grundeinkommen für jeden Menschen, ohne Zwang zur Arbeit und ohne Nachweis einer Bedürftigkeit - lange galt diese Idee als weltfremd, als idealistische Utopie. Doch diese Zeit scheint vorüber zu sein. Das Konzept erfährt enorme Aufmerksamkeit. Es spielt in gleich zwei aktuellen und dennoch voneinander unabhängigen Debatten eine zentrale Rolle: Erstens in der um die Digitalisierung und die von ihr verursachten Umwälzungen. Und zweitens in der um Hartz IV und dessen grundlegende Reform bis hin zur Abschaffung.
In beiden Fällen verspricht das bedingungslose Grundeinkommen eine elegante Lösung der damit verbundenen Probleme.
Doch kann das bedingungslose Grundeinkommen diesen Anspruch erfüllen? Wie würde es überhaupt wirken? Und wo liegen die Grenzen des Konzepts?

Digitalisierung
Wer zahlt, wenn uns die Arbeit ausgeht?
Wieso verschafft gerade die Digitalisierung der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens einen solchen starken Auftrieb? Um das zu verstehen, hilft ein extremes Zukunftsszenario: In der Welt von morgen ist die Erwerbsarbeit verschwunden. Waren werden von Maschinen produziert, Dienstleistungen von Robotern erbracht, Ingenieure und Manager von Algorithmen ersetzt, alles ist vernetzt. Der Mensch kann vollkommen frei seinen Neigungen nachgehen, dem Müßiggang frönen, kreativ und sozial engagiert sein, doch ohne jeden Zwang, etwas wirtschaftlich Verwertbares zu schaffen.
Ökonomisch betrachtet braucht es den Menschen dann eigentlich nur noch als Konsumenten - das allerdings zwingend. In einer solchen Welt wäre die Rollenverteilung klar: Die Maschinen sind dazu da, Einkommen zu generieren. Die Menschen sind dazu da, es auszugeben. Dafür müssen sie regelmäßig eines bekommen. Es an Bedingungen zu knüpfen, wäre sinnlos.
Natürlich erwartet kaum jemand, dass sich die Arbeitsgesellschaft derart vollständig in eine Konsumgesellschaft wandelt. Doch viele Befürworter eines bedingungslosen Grundeinkommens skizzieren eine Zwischenstufe, bei der ein Großteil der Arbeit verschwinden wird. "Alles, was irgendwie geht", werde künftig durch Maschinen, Roboter und künstliche Intelligenz gemacht, sagt etwa der Philosoph Richard David Precht im SPIEGEL-Gespräch. "Und wenn man das täte, hätte die Hälfte der heute Beschäftigten keine Arbeit mehr." Wenn so viele Menschen keine Chance auf Erwerbsarbeit haben, müsse das Einkommen davon abgekoppelt und bedingungslos gewährt werden.
Nicht nur Precht, auch jene argumentieren so, die es am besten wissen müssten: die Chefs der Technologiekonzerne Siemens und Telekom, Joe Kaeser und Timotheus Höttges .
Kommt die Job-Apokalypse?
Doch stimmt das? Geht der Arbeitsgesellschaft wirklich unausweichlich die Arbeit aus? Eine vielbeachtete Untersuchung der Universität Oxford scheint die These zu untermauern. Demnach können Maschinen 47 Prozent aller Berufe ersetzen. Doch inzwischen widersprechen ihr viele Experten: Ob der Industrieländerklub OECD , das Mannheimer Forschungsinstitut ZEW oder die Arbeitsmarktforscher vom IAB - sie alle kommen in Studien zu anderen Prognosen. Demnach wird die Digitalisierung nicht nur Arbeit vernichten, sondern auch neue Arbeitsplätze schaffen, unter dem Strich womöglich gar mehr als wegfallen. Selbst die Autoren der Oxford-Studie stellten jüngst klar : "Unsere Schätzungen wurden oft als nahende Apokalypse der Erwerbsarbeit gedeutet. Doch das ist nicht das, was wir beabsichtigten oder selbst behaupten."

Roboter in der Autoproduktion
Foto: Toru Hanai/ REUTERSEinig sind sich die Experten jedoch darin: Die Digitalisierung wird einen tiefgreifenden Strukturwandel bewirken. Viele Berufe könnten ganz verschwinden, vom Taxifahrer bis zu vielen Jobs in Versicherungen und Banken. Noch mehr Berufe werden sich radikal verändern. Und viele Berufe werden neu entstehen.
Ein plausibles Zukunftsszenario sieht also so aus: Die Digitalisierung wird die Arbeitsgesellschaft nicht abschaffen, ja noch nicht einmal den Bedarf an Erwerbsarbeit verringern. Aber sie wird viele heutige Arbeitnehmer dazu zwingen, neue Kenntnisse und Fähigkeiten zu erwerben - und nicht wenige damit womöglich überfordern. Und diesmal wird es weniger die niedrig Qualifizierten in einfachen Tätigkeiten treffen, sondern vor allem bislang recht ordentlich verdienende Arbeitnehmer mit mittlerer Qualifikation.
Schutz vor Zweiklassengesellschaft?
Im Grunde gehen auch die meisten Befürworter eines Grundeinkommens von einem solchen Szenario aus: "Wir werden in einer Zukunft leben, in der es viele Millionen Menschen ohne Jobs geben wird und zugleich einen Fachkräftemangel", sagt der Philosoph Precht. "Ein Busfahrer, der seinen Beruf verliert, wird nicht anschließend Virtual-Reality-Designer." Auch Siemens-Chef Joe Kaeser spricht nicht vom Ende der Arbeit , sondern geht davon aus, dass "einige auf der Strecke bleiben, weil sie mit der Geschwindigkeit der Welt einfach nicht mehr mitkommen".
Dann aber hätte das bedingungslose Grundeinkommen eine völlig andere Funktion - nicht als Lösung des Problems, sondern als soziales Netz. Laut Kaeser müsse die Gesellschaft dafür sorgen, "dass die Menschen versorgt sind". Sie müssten sehen: "Da ist einer, der hilft mir."

VW-Mitarbeiter bei Betriebsversammlung
Foto: Uwe Zucchi/ dpaDas zentrale Problem aber bliebe bestehen: Millionen Menschen die Teilhabe an einer weiterhin von Erwerbsarbeit geprägten Gesellschaft zu ermöglichen, obwohl ihre Kenntnisse und Fertigkeiten veraltet sind - und gleichzeitig eine riesige Lücke von fehlenden Arbeitskräften zu decken, die für den wirtschaftlichen Erfolg dieser Gesellschaft dringend gebraucht werden (der wiederum Voraussetzung für ein Grundeinkommen ist). Dazu braucht es passende Weiterbildung und Qualifizierung in jedem Lebensalter, und zwar so, dass die Menschen "mitkommen" können und wollen.
Die damit verbundenen Herausforderungen sind erst einmal unabhängig davon, ob es ein bedingungsloses Grundeinkommen gibt. Auch mit ihm gälte es, eine "Zweiklassengesellschaft" zu vermeiden, wie Precht es ausdrückt, in der ein "Arbeitsadel" einem "Millionenheer an Abgehängten" gegenübersteht.
Allheilmittel - oder nur ein Baustein?
Ähnlich verhält es sich mit einem weiteren, unausweichlichen Zukunftsproblem: der Demografie. Die deutsche Gesellschaft überaltert, vor allem wegen der stark steigenden Lebenserwartung. Dass seit Jahrzehnten zu wenig Kinder geboren werden, verstärkt den Effekt noch. Vorausgesetzt Erwerbsarbeit wäre weiterhin unbedingt nötig für die wirtschaftliche Produktion, heißt das: Ein immer kleiner werdender produktiver Teil der Bevölkerung steht einem immer größer werdenden unproduktiven Teil gegenüber.
Das alles spricht keineswegs gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen - sondern eher dafür, dass das Nachdenken und der Streit darüber nötig sind, um auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereitet zu sein. Aber es zeigt auch deutlich die Grenzen des Konzepts auf: Nur wenn die Arbeitsgesellschaft verschwindet, ist ein bedingungsloses Einkommen zugleich zwingend und Lösung der Probleme.
Besteht die Arbeitsgesellschaft jedoch weiter - was realistischer erscheint - werden der Strukturwandel der Digitalisierung und die Überalterung zu Konflikten führen, die auch ein bedingungsloses Grundeinkommen nicht im Kern lösen kann. Es könnte dann aber ein Baustein sein, um im Umbruch den sozialen Frieden zu wahren - wenn es Millionen aus der Mittelschicht die Abstiegs- und Existenzängste nimmt, die mit einem auch nur vorübergehenden Verlust des Arbeitsplatzes verbunden sind.
Kann das bedingungslose Grundeinkommen diese Erwartung erfüllen? Im Prinzip steht dahinter nichts anderes als die Frage: Ist es bereits jetzt die bessere Alternative zu Hartz IV?

Hartz-IV-Frust:
D
as bessere Sozialsystem?
Verfolgt man die Debatte, entsteht der Eindruck: Die Tage von Hartz IV sind gezählt. Selbst SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil will das System so reformieren, dass es binnen fünf Jahren einen neuen Namen verdient. Fraglich ist, ob das jenen 60 Prozent der Bürger reichen wird, die eine "grundsätzliche Änderung" von Hartz IV verlangen - geschweige denn jenen Kritikern, die es komplett abschaffen wollen. Die meisten Fachleute zeigen sich von dieser Forderung irritiert; sie vermissen einen schlüssigen Plan für die Zeit danach.
Viele Befürworter halten das bedingungslose Grundeinkommen für ein solches Gegenkonzept zu Hartz IV.
Spätestens hier stößt man auf ein Problem, das im Zusammenhang mit der Digitalisierung noch unbeachtet bleiben konnte: Das bedingungslose Grundeinkommen gibt es nicht. Stattdessen gibt es eine Vielzahl teils sehr unterschiedlicher Modelle, die sich grob in zwei Ansätze einteilen lassen:
- Der marktradikale (oder neoliberale) Ansatz: Im Kern zielt er darauf ab, das komplexe Zusammenspiel von Sozialleistungen, Steuersystem und Sozialversicherung radikal zu vereinfachen und durch ein einziges Umverteilungssystem zu ersetzen: das Grundeinkommen. Wie auch bei Hartz IV würde es nur das Existenzminimum abdecken - aber ohne Bedürftigkeitsprüfung und formalen Arbeitszwang. Renten- und Arbeitslosenversicherung könnten ebenso abgeschafft werden wie das Kindergeld, das BaFög und der Mindestlohn. In seiner radikalsten Form würde auch die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung privatisiert.
- Der emanzipatorische Ansatz: Ihm geht es um die Befreiung vom Zwang zur Erwerbsarbeit. Das bedingungslose Grundeinkommen soll so hoch sein, dass auch ohne diese eine echte Teilhabe an der Gesellschaft möglich ist - zumindest rein ökonomisch. Der gewachsene Sozialstaat bliebe erhalten oder würde noch ausgebaut. Doch auch dabei soll die Fixierung auf Erwerbsarbeit verschwinden - etwa durch eine Bürgerversicherung, in der auch Beiträge für Einkommen aus Zinsen, Mieten oder Finanzspekulationen fällig werden.
Eine hilfreiche Übersicht über die verschiedenen Modelle hat Ronald Blaschke vom Netzwerk Grundeinkommen erstellt - obwohl sie nur aus Stichpunkten besteht, umfasst sie elf engbedruckte Seiten .
Dennoch haben die meisten Ansätze einige Ansprüche gemeinsam: Sie versprechen einen gerechteren, einfacheren und effizienteren Sozialstaat, der die Würde jedes Einzelnen wahrt, ihn vor Armut schützt und ihm Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht.
Bei näherer Betrachtung stößt man jedoch rasch auf Zielkonflikte und Grenzen des Konzepts. Nur einige Beispiele:
Einfach - und zugleich gerecht?
Eine einheitliche Summe monatlich für jeden Bürger - das sehen fast alle Konzepte vor. Schluss mit dem an sich schon entwürdigenden Gang zu Jobcenter oder Sozialamt! Wirklich?
Angenommen, diese Summe liegt bei 1100 Euro. Ein Single im Landkreis Demmin in Mecklenburg-Vorpommern lebt damit deutlich besser als mit Hartz IV: Rechnet man seinen Regelsatz von 416 Euro mit der Mietobergrenze von 289 Euro und geschätzten Heizungskosten von 80 Euro zusammen, kommt man auf lediglich 785 Euro. Er hätte also mit dem Grundeinkommen einen etwa 300 Euro größeren finanziellen Spielraum als heute. Anders sieht es jedoch bei seinem Pendant in München aus. Dort liegt die Mietobergrenze im Hartz-IV-System bei 657 Euro, mitsamt Regelsatz und Heizungskosten ergibt das 1153 Euro. Sein bedingungsloses Grundeinkommen läge also 53 Euro unter dem Existenzminimum. Gäbe es dann noch Hartz IV, müsste er aufstocken.
Dieses Problem ließe sich noch relativ einfach und unbürokratisch beheben, indem das bedingungslose Grundeinkommen nach Wohnort gestaffelt wird - einige wenige Modelle sehen das auch vor. Doch was ist mit Kranken, die eine besondere Ernährung benötigen, mit Behinderten, mit Schwangeren, mit Alleinerziehenden? Für all diese - und noch weit mehr - Fälle sehen Hartz IV und Sozialhilfe Extra-Zahlungen vor.
Auch ein bedingungsloses Grundeinkommen könnte selbstverständlich durch solche Leistungen ergänzt werden. Aber dann verliert es einige andere erhoffte Vorzüge: Damit nicht jeder einfach einen besonderen Bedarf behaupten kann, müsste dieser nachgewiesen und auch geprüft werden. Die oft als Gängelei empfundene Bedürftigkeitsprüfung in der jetzigen Grundsicherung käme so für viele wieder zurück - und zwar ausgerechnet für jene, die sie bereits jetzt als belastend und würdelos erleben. Auch die Bürokratie würde nur eingeschränkt verschlankt werden.
Zur Erinnerung: Ursprünglich schwebte dem damaligen Arbeitsminister Wolfgang Clement (SPD) auch für Hartz IV eine simple Pauschale für alle vor. Bereits bei der Einführung 2005 war alles viel komplizierter, und inzwischen, nach neun Reformgesetzen, stehen einem 14-Jährigen in einer Wohnung mit Gastherme 3,55 Euro mehr im Monat zu als in einer Wohnung mit Zentralheizung - aber immer noch 92 Cent weniger als seinem 15-jährigen Bruder.
Das zeigt: Das Streben nach Einzelfallgerechtigkeit entwickelt eine eigene Dynamik. Gut möglich, dass diese auch ein zu Beginn einfaches bedingungsloses Grundeinkommen mit der Zeit zu einem äußerst ausdifferenzierten System transformieren würde - mit all der damit verbundenen Bürokratie und Kontrolle.
Der Schlüssel gegen Armut und Ungleichheit?
Bei den marktradikalen Konzepten würde ein bedingungsloses Grundeinkommen allein ohnehin Armut bedeuten, da es wie Hartz IV nur das Existenzminimum abdecken soll. Doch selbst bei den emanzipatorischen Konzepten fällt die relativ geringe Höhe auf - die 1500 Euro, die Richard David Precht vorschweben, sind die mit Abstand höchste Summe. Die meisten anderen Konzepte gehen von 800 bis 1200 Euro aus. Zumindest Singles würden damit je nach Wohnort in vielen Fällen entweder nur knapp über oder sogar unterhalb der relativen Armutsschwelle liegen.
Das relativiert den Anspruch eines bedingungslosen Grundeinkommens, gleichzeitig wirklich vom Arbeitszwang zu befreien und dennoch voll teilhaben zu können. Wer darunter in etwa den Lebensstandard der unteren Mittelschicht inklusive einer bescheidenen jährlichen Urlaubsreise versteht, dürfte in vielen Fällen enttäuscht werden.
Aus dem gleichen Grund würde sich auch an der großen Einkommensungleichheit in Deutschland wenig ändern - und erst recht nicht bei der noch weitaus größeren Vermögensungleichheit.
Ein Grundeinkommen wirklich für alle?
Fast alle Konzepte - egal ob marktradikal oder emanzipatorisch - sehen die Einkommensteuer als Hauptpfeiler der Finanzierung, viele davon mit einem einheitlichen Steuersatz um die 50 Prozent. Weil gleichzeitig auch das Grundeinkommen durchweg eine relativ niedrige Höhe hat, greift dieser Steuersatz schon bei relativ geringen anderen Einkommen (siehe die Modell-Übersicht ).
Netto betrachtet wird es also nie ein bedingungsloses Grundeinkommen für jeden Bürger geben. Stattdessen wird es eine Bevölkerungsgruppe geben, die netto ein Grundeinkommen bezieht - und eine andere Bevölkerungsgruppe, die netto dafür bezahlt.
Das verdeutlicht: Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist lediglich ein Instrument zur Umverteilung. Dieses Instrument muss justiert werden. Wie stark oder schwach diese Umverteilung also sein soll, bleibt weiterhin Bestandteil der politischen Auseinandersetzung - so wie bislang schon in den Debatten um den Spitzensteuersatz, die Progression, den Soli oder die Sozialversicherungsbeiträge.

Die Systemfrage:
Evolution oder Revolution?
In der Debatte erscheint das bedingungslose Grundeinkommen oft als radikaler Gegenentwurf zu dem über viele Jahrzehnte gewachsene System des bestehenden Sozialstaats. Dieser baue immer noch auf das Idealbild einer lebenslangen sozialversicherungspflichtigen Vollzeit-Beschäftigung ohne Unterbrechungen - und passe daher nicht mehr zu einer Gegenwart, in der atypische Beschäftigung, Teilzeitarbeit sowie Phasen der Erwerbslosigkeit und der Neuorientierung Alltag seien. Dieser veränderten Realität werde hingegen das bedingungslose Grundeinkommen gerecht. Daher sei ein Systemwechsel erforderlich.
Diese Sicht ist nicht ganz falsch. Aber sie blendet aus, dass sich der Sozialstaat durchaus als anpassungsfähig erwiesen hat. So werden Renten- und Krankenversicherung inzwischen beileibe nicht mehr allein durch Beiträge aus Lohnarbeit, sondern in steigendem Maße und erheblich durch Steuern finanziert - und damit indirekt eben auch durch Einkommen aus Kapitalanlagen oder den Gewinnen, die Unternehmen durch den Einsatz von Maschinen erwirtschaften.
Auch die aktuellen Bestrebungen, nicht nur Normal-Arbeitnehmer, sondern auch kleine Selbstständige wie Crowdworker voll in die Sozialversicherungen zu integrieren, gehören zu dieser Anpassungsfähigkeit.
Darüber hinaus gibt es Ansätze für Reformen des bestehenden Systems, die Elemente des bedingungslosen Grundeinkommens enthalten:
- Eine Bürgerversicherung für Rente und Krankheit würde von vorneherein nicht nur Arbeitnehmern offenstehen, sondern allen Bürgern - und gleichzeitig aus allen Einkommen finanziert.
- Ein Chancenkonto, wie es die OECD vorschlägt und die SPD fordert, ist eigentlich eine Form des bedingungslosen Grundeinkommens: Es würde für jeden volljährigen Bürger eingerichtet und vom Staat schrittweise bis auf 20.000 Euro aufgefüllt. Der Einzelne kann dann frei entscheiden, wofür er das Geld einsetzt: für Weiterbildung, Existenzgründung, ehrenamtliches Engagement - oder ein Sabbatical, um sich in Ruhe orientieren zu können.
- Nicht zuletzt wäre eine reformierte Grundsicherung, die die offenkundigsten Mängel des Hartz-IV-Systems beseitigen würde, in vielerlei Hinsicht nicht weit entfernt von den meisten Modellen eines bedingungslosen Grundeinkommens.
Viel spricht also dafür, dass die Gesellschaft auch mit einem bedingungslosen Grundeinkommen nicht vollkommen anders funktionieren würde. Das ist weder ein Argument für dessen Einführung noch ein Argument dagegen. Allein die Debatte darüber ist gewinnbringend, weil sie Schwachstellen und Widersprüche des bestehenden Sozialstaats offenlegt. Wer sich von einem bedingungslosen Grundeinkommen jedoch eine ebenso einfache wie gerechte Lösung für die großen Probleme der Gegenwart und der Zukunft erwartet, dürfte enttäuscht werden.
Lesetipps zum Thema:
- Der Ökonom Thomas Straubhaar begründet im SPIEGEL-Gespräch, wieso er ein marktradikales Grundeinkommen für nötig hält.
- Ronald Blaschke vom Netzwerk Grundeinkommen beschreibt in einem "Blätter"-Artikel Möglichkeiten und verbleibende Fragen bei einem emanzipatorischen Grundeinkommen.
- Die Bielefelder Soziologin und Politologin Silke Bothfeld verteidigt ebenfalls in einem "Blätter"-Artikel den bestehenden Sozialstaat.
- Der Soziologe Gerhard Bäcker vom Institut für Arbeit und Qualifikation analysiert , inwieweit ein Grundeinkommen durch die Streichung bestehender Sozialleistungen finanziert werden könnte.
- Der Ökonom Thieß Petersen analysiert die möglichen Wirkungen eines Grundeinkommens auf Wirtschaftswachstum, Löhne und Inflation.
- Die Initiatoren der Schweizer Volksabstimmung von 2016 erklären im SPIEGEL-ONLINE-Interview, welche Vorteile sie in einem bedingungslosen Grundeinkommen sehen.