Bundesverfassungsgericht zum Tarifeinheitsgesetz Stoff für Zoff

Lufthansa-Pilot mit Streik-Schild (Archivbild)
Foto: Uwe Anspach/ picture alliance / Uwe Anspach/dDas Bundesverfassungsgericht hat über das Tarifeinheitsgesetz - einer, salopp gesagt, Streikbremse für Kleingewerkschaften - entschieden und es in großen Teilen gebilligt. Können nun die großen Gewerkschaften jubeln? So klar ist das an diesem Dienstag nicht.
Die kleinen Gewerkschaften geben sich teils zerknirscht, teils kämpferisch. Für den Göttinger Staatsrechtler Frank Schorkopf, der die Ärztegewerkschaft Marburger Bund in dem Prozess vertreten hat, ist "im Ergebnis ein Unentschieden" herausgekommen. Sicher ist: Zwei der acht Richter hätten lieber das ganze Gesetz aus dem Hause von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) gekippt, statt, wie die Richtermehrheit, dem Gesetzgeber und vor allem den Arbeitsgerichten eine Menge Hausaufgaben zu geben.
"Die Richtermehrheit hat im Grunde alles dafür getan, um das Gesetz irgendwie zu halten", sagt der Münchner Arbeitsrechtsanwalt Martin Fink. Allein die Vielzahl der vom Gericht als zumindest kritisch bewerteten Punkte macht deutlich, dass die Angriffe der Minderheitsgewerkschaften gegen das Gesetz nicht unberechtigt waren.
Es gilt das Recht des Größeren
Ein entsprechend hoher Aufwand musste betrieben werden, damit das Gesetz trotzdem Bestand haben konnte - und weiterer Aufwand wird nötig sein.
Das im Sommer 2015 verabschiedete Gesetz soll dafür sorgen, dass nicht eine kleine Berufsgruppe an wichtigen Schaltstellen - wie die Lokführer bei der Bahn, die Piloten bei der Lufthansa oder die Ärzte in den Krankenhäusern - durch ihren Streik alles lahmlegen und damit ihre Individualinteressen durchsetzen kann, womöglich sogar gegen die Interessen der Mehrheit der Arbeitnehmer.
Das Gesetz schreibt daher das Mehrheitsprinzip vor: Wenn sich zwei Gewerkschaften nicht auf ein gemeinsames Vorgehen verständigen können, gilt das Recht des Größeren. Zwar sollen auch die Kleineren weiter Tarifverträge abschließen können - diese würden aber im Kollisionsfall vom Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft verdrängt.
Diese Grundentscheidung des Gesetzgebers hat das Verfassungsgericht nun prinzipiell gebilligt: Das Grundgesetz vermittle den Gewerkschaften "kein Recht auf unbeschränkte tarifpolitische Verwertbarkeit von Schlüsselpositionen und Blockademacht zum eigenen Nutzen", heißt es in einem der Leitsätze des Urteils. Die Betonung liegt aber auf "unbeschränkte" Verwertbarkeit: In begrenztem Umfang dürfen Minderheitsgewerkschaften ihre Macht weiter nutzen - diese Grenzen näher festzulegen, war und ist die hohe Kunst.
Mehr Arbeit für die Arbeitsgerichte
Das Urteil macht deshalb im Detail wichtige Vorgaben, die dafür sorgen, dass die Minderheitengewerkschaften weder ihr Streikrecht noch ihre Existenzberechtigung verlieren. Der Preis dafür ist hoch: jahrelange Rechtsunsicherheit und viel Stoff für Streit um Streiks und Tarifverträge, nicht nur zwischen den Gewerkschaften, sondern auch zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern. Manche Arbeitsrechtler fragen sich schon, ob das Gesetz so überhaupt funktionieren kann - zumindest aber dürften die Arbeitsgerichte noch mehr zu tun bekommen als bisher.
Zoff dürfte es zum Beispiel geben, wenn kleine Gewerkschaften künftig streiken, obwohl der von ihnen angestrebte Tarifvertrag von einem Mehrheitstarifvertrag verdrängt werden kann. Dass sie in einem solchen Fall prinzipiell streiken dürfen, ist nach dem Urteil zwar klar. Dass die Minderheitsgewerkschaft in einem solchen Fall nicht dem Risiko ausgesetzt werden darf, für streikbedingte Verluste und Schäden zu haften, müssten dann aber die Arbeitsgerichte sicherstellen.
Konfliktstoff birgt auch die Frage, wann der Tarifvertrag einer Minderheitsgewerkschaft verdrängt wird - und wann nicht. Das Bundesverfassungsgericht besteht hier nämlich auf Ausnahmen - und das wirkt sich wieder auf die Frage aus, wann und in welchem Umfang gestreikt werden darf. So sollen "längerfristig bedeutsame Leistungen", die eine Minderheitsgewerkschaft in einem Tarifvertrag erstritten hat, und auf die sich Beschäftigte typischerweise in ihrer Lebensplanung einstellen, nicht durch einen Mehrheitstarifvertrag verdrängt werden. Dazu zählt das Urteil ausdrücklich Leistungen zur Alterssicherung, zur Arbeitsplatzgarantie oder zur Lebensarbeitszeit.
Da der Gesetzgeber hierfür keine Schutzvorkehrungen getroffen hat, müssen die Arbeitsgerichte sicherstellen, dass "die Verdrängung eines Tarifvertrags zumutbar bleibt".
Tücken im Detail
Minderheitsgewerkschaften könnten damit künftig sogar taktieren: Statt etwa nur fünf Prozent mehr Lohn für ihre Berufsgruppe zu fordern, was im Kollisionsfall keinen Bestand hätte, und damit vermutlich auch einen Streik fragwürdig erscheinen ließe, könnten sie zusätzlich etwa für eine geringere Lebensarbeitszeit streiken, indem sie die Einführung von Arbeitszeitkonten fordern - und damit den Streik legitimieren.
Am weitreichendsten aber dürfte sein, dass nach Ansicht der Verfassungsrichter in dem Gesetz "Schutzvorkehrungen gegen eine einseitige Vernachlässigung der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen durch die jeweilige Mehrheitsgewerkschaft fehlen". Es sei deshalb nicht auszuschließen, dass deren Arbeitsbedingungen und Interessen "mangels wirksamer Vertretung in der Mehrheitsgewerkschaft unzumutbar übergangen werden".
Hierfür muss nun der Gesetzgeber Abhilfe schaffen - als Frist setzen die Richter den 31. Dezember 2018. Bis dahin darf die zentrale Vorschrift des Tarifeinheitsgesetzes, die Verdrängungsregel, nur angewendet werden, "wenn plausibel dargelegt werden kann", dass die Mehrheitsgewerkschaft die Interessen der vorrangig in der Minderheitsgewerkschaft organisierten Berufsgruppen "ernsthaft und wirksam in ihrem Tarifvertrag berücksichtigt hat".
Darüber, wie das funktionieren soll, rätseln aber selbst Experten. Schließlich haben Mehrheits- und Minderheitsgewerkschaft gerade in den Punkten, die ihnen besonders wichtig sind, oft gegenläufige Interessen. Und wer nachgibt, stärkt damit automatisch die Konkurrenz, weil diese das dann als ihren Erfolg verbuchen und entsprechend um neue Mitglieder werben kann.
Auch der Gesetzgeber dürfte dieses Problem nur schwer lösen können. "Es steht sogar in den Sternen, ob der Gesetzgeber dafür überhaupt eine verfassungskonforme und zugleich praktikable Lösung findet", warnt der Arbeitsrechtler Alberto Povedano von der Uni Köln.
Die Konsequenz wäre möglicherweise, dass den Tarifparteien - Arbeitgebern und den beteiligten Gewerkschaften - die Rechtsunsicherheit zu groß ist und sie das Gesetz einfach weiter für unanwendbar halten, so wie zuletzt auch schon, bis zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts.