Exodus der Fachkräfte Die junge Elite verlässt die Türkei

Hunderttausende Türken verlassen jedes Jahr ihre Heimat - vor allem junge, gut ausgebildete Großstädter. Sie sehen unter Erdogan keine Zukunft für sich. Für die türkische Wirtschaft ist das ein Problem.
Universität Istanbul

Universität Istanbul

Foto: Emilio Morenatti/ AP

Zwei Jahre lang hat Ugur Öztürk* mit sich gerungen, hat die Vor- und Nachteile eines Umzugs immer wieder abgewogen. Im Sommer entschied er sich schließlich, seine Heimatstadt Istanbul zu verlassen und gemeinsam mit Frau und Tochter nach Berlin zu ziehen. "Es ging einfach nicht mehr in der Türkei", sagt er.

Der 38-Jährige bringt Qualifikationen mit, wie sie sich jedes Unternehmen wünscht: Er spricht mehrere Sprachen. Er hat an der renommierten Bogazici-Universität in Istanbul Maschinenbau studiert und anschließend als Digitalmarketingchef für die türkische Finansbank gearbeitet.

Öztürk war in seinem Beruf in der Türkei erfolgreich. Und trotzdem fühlte er sich zunehmend unwohl. Er musste mitansehen, wie jeden Tag Menschen zu Unrecht verhaftet wurden, wie die Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdogan Medien und Justiz unterjochte. Als im Sommer auch noch die Wirtschaft einbrach, hatte Öztürk genug. "Ich will nicht, dass unsere Tochter in einem solchen Umfeld aufwächst", sagt er.

Vielen Türken geht es wie Öztürk. Laut Angaben türkischer Statistiker verließen 2017 mehr als 250.000 Menschen das Land aus wirtschaftlichen, politischen, sozialen oder kulturellen Gründen - fast doppelt so viele wie im Jahr zuvor. In diesem Jahr dürften die Zahlen aufgrund der Wirtschaftskrise noch einmal steigen.

Es sind vor allem junge, gut ausgebildete Bürger, die der Türkei unter Erdogan den Rücken kehren: Fast die Hälfte der Emigranten ist zwischen 25 und 34 Jahre alt, 57 Prozent kommen aus Großstädten wie Istanbul, Ankara oder Izmir.

Die wenigsten von ihnen wurden von der Regierung direkt verfolgt oder waren Repressionen ausgesetzt, wie es Oppositionelle oder Journalisten sind. Sie sehen, wie Öztürk, schlicht keine Zukunft mehr für sich in einem Land, in dem die Regierung die bürgerlichen Freiheiten immer stärker einschränkt.

Im Frühsommer 2013 demonstrierten im Istanbuler Gezi-Park noch Hunderttausende Menschen für mehr Demokratie. Sie trugen Bilder in die Welt, wie man sie in Deutschland viel zu selten wahrnimmt, Bilder einer modernen, progressiven, säkularen Türkei. Jetzt ist es genau jene "Generation Gezi", die die Hoffnung verliert.

"Jene, die während der Gezi-Proteste aus verschiedenen Gründen auf die Straße gingen, verlassen nun das Land, weil es für sie keine demokratischen Kanäle mehr gibt, um ihre Empörung auszudrücken", sagt Sercan Celebi, Mitgründer von Oy ve Ötesi, einer türkischen Nichtregierungsorganisation, die sich für Transparenz bei Wahlen einsetzt.

Der Exodus der Eliten dürfte die Entwicklung des Landes weiter hemmen. Schon jetzt steckt die Türkei in der schwersten Wirtschaftskrise seit Erdogans Machtübernahme 2003. Die Lira hat seit Jahresbeginn 20 Prozent an Wert verloren. Die Inflation stieg im Oktober auf den Rekordstand von 25 Prozent. Die Geschichten der Emigranten seien Sinnbild für eine Türkei, die introvertierter und in jeder Hinsicht ärmer werde, schreibt der Autor Kadri Gürsel im Analyseportal "Al-Monitor".

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Die Regierung hat das Problem inzwischen erkannt. Industrie- und Technologieminister Mustafa Varank klagte unlängst darüber, dass das Land durch den Brain Drain Fachkräfte verliere. Erdogan versprach Akademikern, die aus dem Ausland in die Türkei zurückkehren, ein Monatsgehalt von umgerechnet 4000 Euro, deutlich mehr als der türkische Durchschnitt.

Es ist nur fraglich, ob die Initiative Erfolg hat. Nur eine Woche nach Erdogans Ankündigung nahm die Polizei 13 Akademiker und Kulturschaffende fest, die angeblich die Gezi-Proteste organisiert haben sollen. Zwar sind die meisten von ihnen inzwischen wieder frei, die Razzia war aber sicher keine Werbung für den Standort Türkei.

*Name von der Redaktion geändert

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