Thomas Fricke

Ukrainekrieg Weshalb der Westen so schwach wirkt

Thomas Fricke
Eine Kolumne von Thomas Fricke
Wenn Autokraten wie Wladimir Putin so katastrophal strotzen, hat das auch etwas mit der Krise bei uns zu tun: Dem Westen ist die Macht abhandengekommen, als Vorbild zu strahlen.
Kanzler Olaf Scholz und US-Präsident Joe Biden in Washington am 7. Februar

Kanzler Olaf Scholz und US-Präsident Joe Biden in Washington am 7. Februar

Foto: Anna Moneymaker / Getty Images

Was treibt Wladimir Putin an? Und wie lässt sich stoppen, was er da anzurichten begonnen hat? Die Antworten liegen bei Militärs, Strategen, Cyberexperten, Sanktionsfachleuten und ein bisschen auch bei Psychologen. Und doch schwingt in diesen dramatischen Stunden eine womöglich für die nächsten Jahre ebenso wichtige Grundsatzfrage mit: Warum in diesen Zeiten Autokraten wie Putin, Chinas Xi Jinping, Ungarns Viktor Orbán oder der türkische Präsident Erdoğan zunehmend Mut zur Provokation zu spüren scheinen. Und warum der Westen von den Betreffenden immer wieder an der Nase herumgeführt zu werden scheint.

Eine tiefere Ursache könnte weniger in militärisch-diplomatischen Schwächen des Westens liegen, als darin, dass jenes vermeintlich universelle wirtschaftliche Modell an Strahlkraft krachend verloren hat, das den Westen spätestens nach dem Mauerfall und über lange Zeit wie selbstverständlich als Vorbild wirken ließ.

Auf welch fatale Weise das heute fehlt, lässt sich beim Rückblick in die Wendezeit erahnen. Damals war in der globalen Wahrnehmung der Systemwettbewerb entschieden, die Geschichte (der Ideologien) zu Ende – und das anglo-amerikanische Modell von Wirtschaft und Globalisierung galt als einzige Wahrheit: ob die Idee vom grenzenlosen Wettbewerb, der stets für mehr Leistung und Vielfalt sorgt; oder der Glaube an die Finanzwelt, die umso effizienter lenkt, je mehr sie in Sekunden das Geld um den Globus schießen lässt; oder das Versprechen, dass der Markt das Meiste im Leben am besten regelt.

Damals wurden die marktradikalen Chicago Boys wie selbstverständlich in die zerfallende Sowjetunion geschickt, um dort puren Kapitalismus zu predigen. Da versprach die chinesische Staatsführung wie selbstverständlich, die möglichst liberalste Wirtschaft zu haben – und einen wenig regulierten Arbeitsmarkt für möglichst billige Arbeitskräfte. Um Investoren im globalen Wettbewerb anzuziehen. Und westliche Marktprediger zu Tränen zu rühren. Da war klar, dass man der Welthandelsorganisation beitritt. Da gab es von Internationalem Währungsfonds und Weltbank Einheitsrezepte für alle: bloß keine Kapitalverkehrskontrollen und keine staatlichen Interventionen, dafür im Zweifel Austerität. Diplomatieexperten nennen so etwas »soft power«: Macht ohne militärische Mittel.

Das Modell begann zu bröckeln, schon als Ende der Neunzigerjahre die erste Finanzkrise über die Schwellenländer hereinbrach – und Russland mit sich zog. Weil eben die Finanzmärkte doch stark zu Herdentrieb neigen – und Länder mal im Rausch hochspekulieren, um das Kapital dann in besagten Sekunden wieder abzuziehen.

Was so eine ausgewiesene Finanzkrise bedeutet, bekamen kurz darauf auch Amerikaner und andere im Westen zu spüren: erst beim Absturz der New Economy – und dann mit der Großen Finanzkrise ab 2007 samt folgender Eurokrise ab 2009. Wobei schon die Lehman-Krise im Westen zu einem abrupten Vertrauensverlust in die einstigen marktliberalen Versprechen geführt hat. Nach Umfragen befinden heute nur noch etwa die Hälfte der Leute in Deutschland, dass die Marktwirtschaft etwas per se Gutes ist.

Das anglo-amerikanisch geprägte Modell ist kaputt

Dass das einstige Vorbild kriselt, hat dabei nicht nur mit den Finanzdebakeln zu tun. Auch die Mär, dass Globalisierung am Ende allen zugutekommt, flog seither auf. Der chinesische Beitritt zur WTO führte in den USA zu einem regelrechten Kollaps der alten Autoindustrien – Stichwort Rostgürtel – und in der Folge zum Aufstieg von Donald Trump just in den betreffenden Regionen. In Großbritannien stimmten gerade Leute aus den abgestürzten Industrieregionen für den Brexit. Ähnliches gilt für Deutschland, wo in abgehängten Regionen die AfD ihre besten Ergebnisse erzielt.

Seither ist das anglo-amerikanisch geprägte Modell kaputt, und der Trend geht eher zu Reparaturarbeiten. Das gilt für besagte Finanzglobalisierung (auch wenn das an den globalen Strömen noch nicht so viel geändert hat). Der Internationale Währungsfonds (IWF) empfiehlt längst keinen per se uneingeschränkten Kapitalverkehr mehr. Weil allzu freie Arbeitsmärkte zur Ausbeutung führen, wurden überall Mindestlöhne eingeführt. Und: Weil offenbar wurde, dass rapider Verlust regionaler wirtschaftlicher Stärke zu dauerhaften Brüchen führt, wird heute auch viel mehr darüber nachgedacht, solche Brüche vorher aufzufangen. Um gefühlten und tatsächlichen Kontrollverlust zu kurieren – und den Glauben darin wieder zu stärken, dass es mit eigener Kraft auch geht.

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Auch gibt es mittlerweile weitgehend Konsens darüber, dass wieder mehr in öffentliche Einrichtungen und Infrastruktur investiert werden müsste – ob in den USA, Großbritannien oder Deutschland und anderen europäischen Ländern. Das Drama liegt darin, dass all das noch kein neues westliches Modell ist, das auf andere auch nur ansatzweise so ausstrahlt wie einst das Versprechen der Globalisierung.

Wie sehr der Westen noch damit beschäftigt ist, genau das zu realisieren und Neues zu erfinden, lässt sich in den USA beobachten. Dort ist Joe Biden zwar mit einem Programm angetreten, das etwas von einem ikonischen großen Neuanfang wie einst Roosevelts New Deal hatte: mit großen Investitionen in die vernachlässigte Infrastruktur, neuen sozialen Mitteln gegen den Kontrollverlust und besserer Regulierung der Finanzmärkte. Nur dass es dafür selbst bei den Demokraten keine klare Mehrheit gibt – und die Republikaner in Richtung Sekte tendieren.

Dass eine überzeugende Antwort auf die großen Probleme der Zeit fehlt, zeigt sich auch daran, dass die Franzosen so stark nach rechts tendieren. Die Deutschen haben jetzt zwar eine selbst ernannte Fortschrittsregierung. Allerdings schwankt sie offenbar doch stark zwischen Neunzigerjahre-Ökonomie und etwas, was wie Bidenomics klingt.

Den Schein derer vermitteln, die in den globalen Wirren die Kontrolle behalten

Klar ist: Das alte marktliberale Globalisierungsding zieht nicht mehr. Die meisten Schwellenländer haben nach Asien- und Russlandkrise ohnehin bald auf gesteuerte Liberalisierung gesetzt. China setzt auf intervenierende Industriepolitik. Und im Westen wird überall staatlich so sehr korrigiert, dass der eine oder andere schon die Rückkehr des Kommunismus wähnt. Das ist natürlich übertrieben, spiegelt aber den Konzeptionsmangel.

In so einem Umfeld können Autokraten zum einen den Schein derer vermitteln, die in den globalen Wirren die Kontrolle behalten – besser als all die westlichen Demokraten. Und in dem es dem Westen zum anderen an Überzeugungskraft dafür mangelt, die besseren Antworten auf immer neue Finanzkrisen, die Kehrseiten von Globalisierung und gewachsene Spaltung oder die drohende Klimakrise zu haben. Jene soft power, von der Demokratien leben. Auch wenn die, die das gerade auszunutzen versuchen, es gar nicht besser können – dafür aber vor lauter Strotzen die sehr viel schlimmeren Schäden anrichten.

All das wird als Einsicht Wladimir Putin nicht einen Hauch beeindrucken und den akuten Krieg in der Ukraine nicht stoppen helfen. Natürlich nicht. Aber es könnte helfen, im Westen sehr viel mehr Energie daranzusetzen, ein neues Wirtschaftsmodell zu entwerfen. Ein Modell, das jene Ausstrahlung hat, die Menschen überzeugt und mitzieht – und es Autokraten schwerer macht. So wie das vor drei Jahrzehnten einmal die Doktrin von der marktliberalen Globalisierung für alle getan zu haben scheint.

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