Niedrige Inflation in den USA Vom eigenen Erfolg überrollt

Die USA haben ein Problem: Der Arbeitsmarkt boomt, aber die Preise wollen einfach nicht steigen. Notenbanker rätseln, was zu tun ist.
Arbeiter zwischen Stahlrollen in Canton, Ohio: Gute Nachrichten - auf den ersten Blick

Arbeiter zwischen Stahlrollen in Canton, Ohio: Gute Nachrichten - auf den ersten Blick

Foto: Brian Snyder/REUTERS

Ein Mann kommt in eine Tierhandlung, in der Hand einen Käfig, in dem ein offensichtlich toter Papagei liegt. Was mit dem Vogel nicht stimme, fragt der Verkäufer unwirsch. "Ich will Ihnen sagen, was mit ihm nicht stimmt. Er ist tot", antwortet der Kunde. Aber nein, wiegelt der Händler ab: "Er ruht sich aus."

Der berühmte Dialog aus Monty Pythons Sketch "Dead Parrot" könnte demnächst in den Lehrbüchern der Ökonomie auftauchen. Denn mit einer versteckten Anspielung auf den toten Papagei hat Fed-Chef Jerome Powell eines der einflussreichsten ökonomischen Modelle quasi für obsolet erklärt: die Phillips-Kurve, die einen Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation herstellt. "Ich würde nicht sagen, dass sie tot ist. Sie ruht vielleicht nur", befand der oberste Geldpolitiker der USA zum Zustand dieser Theorie.

Der Jurist Powell ist unter seinen Kollegen für seinen staubtrockenen Humor bekannt. Doch den Geldpolitikern ist nicht zum Lachen zumute. Sie müssen sich inzwischen nicht nur Sorgen um einen Abschwung der US-Konjunktur machen - sondern auch darum, dass die Inflation einfach nicht richtig in Gang kommen will.

Jerome Powell: "Ich würde nicht sagen, dass die Phillips-Kurve tot ist. Sie ruht vielleicht nur"

Jerome Powell: "Ich würde nicht sagen, dass die Phillips-Kurve tot ist. Sie ruht vielleicht nur"

Foto: Leah Millis / REUTERS

Mit 3,7 Prozent ist die Arbeitslosigkeit in den USA so niedrig wie seit einem halben Jahrhundert nicht, die Wirtschaft befindet sich im elften Aufschwungsjahr in Folge, und die Unternehmen suchen händeringend nach Beschäftigten. Der Phillips-Kurve zufolge müsste ein solcher Boom dazu führen, dass die Löhne steigen und die Inflation anzieht. Doch in den vergangenen Jahren sind die Preissteigerungen in den USA störrisch unter der Marke geblieben, die die Notenbank für ideal hält: zwei Prozent. Auch im Mai lag die Teuerung nach dem von der Fed angewandten Index wieder nur bei 1,5 Prozent.

Es ist eine Art verkehrte Welt: Notenbanken wie die Fed oder die Europäische Zentralbank (EZB) haben sich ihre Inflationsziele ursprünglich gesetzt, um zu verhindern, dass die Inflation wie in der Vergangenheit zu sehr steigt. Nun erweist sich als das größere Problem, dass die Preise zu langsam steigen. "Es besteht ein Risiko, dass die schwache Inflation hartnäckiger ist, als wir es momentan unterstellen", erklärte Powell vergangene Woche in einer Anhörung des Kongresses in Washington.

Auf den ersten Blick scheint dies eine gute Nachricht: Die Fed kann nun auf ihrer nächsten Sitzung des Offenmarktausschusses Ende Juli die Zinsen senken und die Wirtschaft stimulieren, ohne fürchten zu müssen, damit zugleich die Inflation zu stark anzuheizen.

Wenn die Zinsen sinken, steigt - zumindest in der Theorie - die Inflation. Denn niedrige Zinsen führen in der Regel dazu, dass Banken mehr Kredite vergeben. Sie schaffen also neues Geld, das in den Wirtschaftskreislauf kommt. Wenn die Geldmenge steigt und die Anzahl der Waren, die man sich dafür kaufen kann, gleich bleibt, verliert das Geld logischerweise an Wert - oder anders gesagt: Die Waren werden teurer.

Doch die Inflation bleibt niedrig. Und diese Entwicklung bereitet den Geldpolitikern zunehmend Sorgen. Auch Deflation kann eine Volkswirtschaft zum Erliegen bringen: Die Konsumenten verschieben dann ihre Einkäufe Monat um Monat, weil sie erwarten, dass das neue Auto oder die Waschmaschine irgendwann noch billiger wird. Das Zwei-Prozent-Ziel stellt den Sicherheitsabstand zu diesem Szenario dar. Zudem befürchten Fed-Vertreter, dass eine zu niedrige Inflation ihnen den Spielraum raubt, um in einer Rezession die Konjunktur durch eine Serie von Zinssenkungen wieder zum Laufen zu bringen.

Fotostrecke

Gefährlicher Preisverfall: Wie Deflation entsteht

Foto: SPIEGEL ONLINE

John Williams, Präsident der Fed von New York, argwöhnt, dass die gefährliche Spirale bereits läuft: Die eingeschränkte Möglichkeit der Zentralbanken, Abschwüngen entgegenzuwirken, löse eine negative Kettenreaktion aus, sagte er bei einem Vortrag: "Die Inflationserwartungen sind niedrig, das wiederum drückt die gegenwärtige Inflation, und damit verkleinert sich der geldpolitische Spielraum weiter."

Um dem entgegenzuwirken, erwägt die Fed deshalb eine neue Methodik. Die Idee: Statt die Zielmarke statisch zu betrachten, könnte man einen Korridor über einen längeren Zeitraum bilden. Liegt die Inflation unter der Zwei-Prozent-Marke, wird ihr das dann quasi für die Zukunft gutgeschrieben - die Preise dürften dann später auch über diese Marke klettern, ohne dass die Notenbank interveniert.

Bislang allerdings ist eine solche Wende nicht erkennbar. Jedenfalls solange US-Präsident Donald Trump nicht mit weiteren Importzöllen gegen China flächendeckende Preiserhöhungen in Amerika auslöst.

Betreibt die Fed also Geldpolitik an der Realität vorbei?

Auf eindrucksvolle Weise hat die demokratische Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez dem Fed-Chef im Kongress das öffentliche Eingeständnis abgeluchst, dass seine Institution die Inflationsgefahren offenbar lange überschätzt hat.

Ob es richtig sei, dass das Mandat der Fed darin bestehe, Preisstabilität und eine möglichst hohe Beschäftigung zu sichern, fragte Ocasio-Cortez.

Ja, antwortete Powell.

Ob die Fed also anstrebe, die Arbeitslosigkeit so niedrig zu halten, wie das möglich sei, ohne dass die Inflation zu sehr steige, fragte Ocasio-Cortez.

Ja, antwortete Powell.

2014 habe die Fed noch geglaubt, die entsprechende Arbeitslosenquote liege bei 5,4 Prozent, heute gehe sie von 4,2 Prozent aus - wie hoch denn die Arbeitslosigkeit aktuell sei, fragte Ocasio-Cortez.

3,7 Prozent, antwortete Powell.

Sei die Schätzung der Fed für die nachhaltige Arbeitslosenquote dann vielleicht zu hoch gewesen, fragte Ocasio-Cortez.

Absolut, sagte Powell.

Die Demokratin hat damit die Aussage bekommen, die sie politisch braucht: Höhere Löhne stellen keine Inflationsgefahr dar. Sogar das Trump-Lager zollte ausnahmsweise Beifall. Für ihren Auftritt verdiene Ocasio-Cortez die Note eins, lobte Trumps Wirtschaftsberater Larry Kudlow. "Sie hat es aus dem Fed-Chairman herausgekriegt." Kudlows Kalkül ist klar: Einer Lockerung der Geldpolitik steht nun aus seiner Sicht nichts mehr entgegen. Denn US-Präsident Trump will unbedingt Zinssenkungen, um eine Abschwächung der Konjunktur zu verhindern.

Die Ökonomen rätseln derweil, was der Phillips-Kurve zugestoßen ist. Eine Interpretation: Die Fed war bei der Bekämpfung der Inflation schlicht zu erfolgreich. Es gebe keinen Zweifel, wer der Mörder sei, hat Powells Fed-Kollege James Bullard erklärt: "Es war die Fed, die die Phillips-Kurve umgebracht hat."

Powell selbst will das ökonomische Dogma dagegen nicht endgültig begraben. Der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation sei "schwächer und schwächer und schwächer geworden". Aber noch sei ein "schwacher Herzschlag" zu hören. "Er ist noch da", sagte der Fed-Chef.

Monty Pythons Papagei allerdings ist nicht mehr aufgewacht.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren