Verdi-Chef Bsirske gegen Mindestlohn-Ausnahmen "Willkür von Hungerlöhnen"

"Wählertäuschung", "schwerer Fehler", "löchriger Flickenteppich": Die Gewerkschaften wettern gegen die geplanten Ausnahmen beim Mindestlohn. Die SPD spricht hingegen von einem "klugen Vorschlag".
Erntehelfer in Nordrhein-Westfalen: Mindestlohn-Regelung aufgeweicht

Erntehelfer in Nordrhein-Westfalen: Mindestlohn-Regelung aufgeweicht

Foto: Roland Weihrauch/ dpa

Berlin/Hamburg - Die Gewerkschaften kritisieren die geplanten zusätzlichen Ausnahmen beim Mindestlohn heftig. "Die neuen Schlupflöcher sind eine regelrechte Einladung, den gesetzlichen Mindestlohn zu umgehen", sagte der Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, Frank Bsirske, am Sonntag in Berlin.

Der Verdi-Chef kritisierte, mit der Vielzahl von Ausnahmen mache die Koalition den gesetzlichen Mindestlohn zu einem "löchrigen Flickenteppich, der kaum noch zu kontrollieren sein wird". Die Ausnahmen träfen ausgerechnet die Schwächsten am Arbeitsmarkt, nämlich Langzeitarbeitslose, Saisonkräfte, Erntehelfer, Zeitungszusteller und Praktikanten. Damit würden Millionen Beschäftigte weiterhin "der Willkür von Hungerlöhnen" ausgeliefert.

Die Zahl der Betroffenen liege bei "mindestens drei Millionen Menschen", sagte Bsirske der "Bild am Sonntag". Zuvor hatte bereits der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) die bekannt gewordenen Sonderregelungen für Erntehelfer und Zeitungsausträger als "schweren Fehler" kritisiert.

Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) bestätigte die zusätzlichen Ausnahmen, die auf Drängen der Union vereinbart worden waren. "Die Verhandlungen mit dem Koalitionspartner sind erfolgreich beendet", sagte sie der Koblenzer "Rhein-Zeitung". Auch der stellvertretende SPD-Vorsitzende Olaf Scholz wies die Kritik zurück. Nahles habe einen klugen Vorschlag vorgelegt", sagte Scholz. "Die in der Koalition verhandelten Kompromisse sind alle gut vertretbar."

"Grobe Wählertäuschung"

Bsirske warf insbesondere der SPD "grobe Wählertäuschung" vor. Die Sozialdemokraten hätten ihre Parteimitglieder über den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn abstimmen lassen. Scharfe Kritik kam von den Linken. Der Mindestlohn werde zum Schweizer Käse, erklärte Linken-Fraktionsvize Klaus Ernst. Für Arbeitsministerin Nahles gelte: "Versprechen gegeben, Versprechen gebrochen!"

Auch der Präsident der Bundesagentur für Arbeit (BA), Frank-Jürgen Weise, äußerte sich skeptisch. "Wenn man zu viele Sonderregelungen zulässt, wird man Widersprüche produzieren, Ausweichverhalten fördern und am Ende Unzufriedenheit ernten", sagte Weise der "Frankfurter Rundschau" vom Samstag. Bedenken wegen angeblich drohender Arbeitsplatzverluste im großen Stil habe er nicht.

Der stellvertretende CDU-Vorsitzende Thomas Strobl verteidigte die geplanten Ausnahmen dagegen. "Wir haben immer gesagt, dass wir den Mindestlohn wollen, aber dass keine Arbeitsplätze gefährdet werden dürfen", sagte Strobl der "Saarbrücker Zeitung". Es zeichne sich nun ein "sehr guter Kompromiss" ab, der das sicherstelle.

Das Gesetz zur Tarifautonomie, das den gesetzlichen Mindestlohn enthält, soll am Donnerstag vom Bundestag verabschiedet werden und ab 2015 gelten. Am Montag soll es nochmals eine Expertenanhörung geben. Der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde soll generell vom 1. Januar 2015 an in Deutschland gelten.

Es gibt aber Ausnahmen:

  • So wird etwa die Regelung für Saisonarbeiter und Erntehelfer aufgeweicht: Die Arbeitgeber sollen nach Informationen von SPIEGEL ONLINE Kosten für Wohnung und Verpflegung in den Mindestlohn einrechnen dürfen. Außerdem wird die Beschäftigungsdauer von bisher geplanten 50 Tagen auf 70 Tage im Jahr ausgeweitet.
  • Pflichtpraktika sollen hingegen - wie vorher bereits vereinbart - vom Mindestlohn ausgespart bleiben. Zudem dürfen freiwillige Praktika künftig deutlich länger dauern als bislang geplant, ehe 8,50 Euro Stundenlohn fällig werden: Drei Monate anstelle der bisher ausgehandelten sechs Wochen dürfen laut Gesetz ohne Mindestlohn angeboten werden.
  • Außerdem soll es keine Rabatte für Zeitungsverleger bei den Sozialbeiträgen ihrer Zusteller geben. Stattdessen sollen Zeitungsverlage für zwei Jahre eine Ausnahme vom Mindestlohn erhalten: Sie müssen den Mindestlohn erst von 2016 an bezahlen.

lgr/AFP/dpa
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