Verfahrensflut Klagewelle gegen Hartz IV erreicht neuen Höhepunkt

Die Sozialgerichte werden mit Hartz-IV-Klagen förmlich überrannt: Allein beim bundesweit größten Sozialgericht gingen 2010 fast 32.000 neue Beschwerden ein - rund ein Fünftel mehr als im Vorjahr. Die Hälfte der Kläger gewinnt ihren Rechtsstreit.
Jobcenter (Archivbild): "Klares Signal an die Politik"

Jobcenter (Archivbild): "Klares Signal an die Politik"

Foto: Carsten Rehder/ picture alliance / dpa

Berlin - Das Berliner Sozialgericht sieht sich einem gewaltigen Ansturm ausgesetzt: Seit Einführung von Hartz IV vor sechs Jahren habe sich die Zahl der Verfahren mehr als vervierfacht - auf jetzt insgesamt 117.000, sagte Gerichtspräsidentin Sabine Schudoma am Dienstag.

Mit einem Rückgang ist auch nach Inkrafttreten der geplanten Neuregelungen nicht zu rechnen. 39.000 Klagen warten noch auf eine Entscheidung - genug, um das Gericht ein Jahr lang zu beschäftigen, ohne das auch nur eine neue Klage hinzukäme. "Der Ausnahmezustand ist zur Regel geworden", sagte Schudoma der "Süddeutschen Zeitung".

"Die Hartz-IV-Klagewelle ist keine Wutwelle", sagte Schudoma. In den Hartz-IV-Klagen gehe es oft um die Anrechnung von Einkommen, Kosten der Unterkunft und Verletzung von Bearbeitungsfristen. Fälle von Sozialbetrug seien die krasse Ausnahme.

Der wahre Grund für die Klageflut liegt woanders: in den Jobcentern. Dort betreuen viel zu wenige Sachbearbeiter viel zu viele Menschen. Und selbst Fachleute verstehen bisweilen nicht das Regelwerk, das sie anwenden müssen, in allen Nuancen. So entstehen Fehler bei der Bearbeitung, und Hartz-IV-Empfänger bekommen Nachfragen nicht so beantwortet, dass sie sie verstehen. Vielen ziehen dann vor Gericht.

Entsprechend hoch ist die Erfolgsquote für Hartz-IV-Bezieher: Jede zweite Klage geht zu ihren Gunsten aus. Hauptgründe für die Flut der Beschwerden sind laut Schudoma Bürokratie und Überlastung der Jobcenter. "Eine Erfolgsquote von 50 Prozent ist ein klares Signal an die Politik - vergesst die Praxis nicht", sagte Schudoma.

Berlin ist die Stadt mit den meisten Hartz-IV-Empfängern und Aufstockern in Deutschland. Jeder fünfte Berliner unter 65 Jahren lebt von Hartz IV - derzeit sind es 441.000 erwachsene Hilfebedürftige sowie 155.000 Kinder und Jugendliche. Bundesweit beziehen rund 4,8 Millionen erwachsene Menschen Hartz IV.

Die Bundesagentur für Arbeit verwies darauf, dass sie jedes Jahr über 25 Millionen Leistungsbescheide an Hartz-IV-Bezieher verschicke. Vor Gericht aufgehoben oder verändert worden seien davon 2009 rund 0,2 Prozent. Etwa 40 Prozent aller Klagen endeten bereits vorher dadurch, dass die Jobcenter den Klagegrund anerkannten und die Bescheide abänderten. Nur etwa jede achte Klage ende mit einer Gerichtsentscheidung.

ssu/dpa/Reuters
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