
Armut in Ungarn: Ausgegrenzt in Orbáns "Arbeitsstaat"
Wirtschaft und Armut in Ungarn Orbáns moderne Sklaverei
Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán präsentiert sich vor heimischem Publikum gern als "Anwalt der kleinen ungarischen Leute". Er habe sein Volk seit seinem Amtsantritt im Jahr 2010 aus der "Sklaverei" durch internationale Banken, Konzerne und Finanzspekulanten befreit.
Es klingt beeindruckend, wenn Orbán im achten Jahr seiner Amtszeit die sozialen und materiellen Verbesserungen für die zehn Millionen Ungarn aufzählt: Seine Regierung ließ die Steuern und die Strom-, Gas- sowie Wohnbetriebskosten senken.
Sie führte Familien- und Kinderbeihilfen ein und schuf Hunderttausende neue Arbeitsplätze. Sie half Zehntausenden durch Fremdwährungskredite verschuldeten Ungarn mit einem Umschuldungsprogramm zulasten ausländischer Banken und belegte ausländische Unternehmen mit Sondersteuern. "Unorthodoxe Wirtschaftspolitik" zum Wohl des ungarischen Volkes nennt Orbán das.
Andererseits hat Orbán die Abschaffung des Sozialstaates und den Aufbau eines "Arbeitsstaates" zum Programm erhoben: Wer Sozialleistungen erhält, soll zu Arbeit gezwungen werden. Die Regierung hat Ungarn damit sozial so tief gespalten wie nie zuvor seit dem Ende der kommunistischen Diktatur. Zu diesem Schluss kommt die ungarische Soziologin Zsuzsa Ferge. In einem neuen Buch analysiert die 86-Jährige die Sozialpolitik ihres Landes nach 1990. Zsuzsa Ferge ist die Grande Dame der ungarischen Sozialforschung und beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Armut und sozialer Ausgrenzung in Ungarn.
Zsuzsa Ferge, 86, hat zahlreiche Werke über die soziale Lage unter der kommunistischen Diktatur und die sozialen Verwerfungen der postkommunistischen Übergangsperiode verfasst. Seit 2006 leitet sie das Programm gegen Kinderarmut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Vor Kurzem erschien ihr neuestes Buch "Die ungarische Sozialpolitik von 1990 - 2015".
SPIEGEL ONLINE: Sie bestreiten Orbáns Selbstdarstellung als "Anwalt der kleinen Leute". Worauf stützen Sie sich dabei?
Ferge: Die Sozialpolitik der Orbán-Regierung hat größtenteils nicht den Ärmeren, sondern den Wohlhabenden geholfen. Die Einführung des einheitlichen Einkommensteuersatzes von 16 Prozent im Jahr 2013 und seine Senkung auf 15 Prozent zwei Jahre später brachte den obersten zehn Prozent Zusatzeinkommen von umgerechnet 1,6 Milliarden Euro. Die Mehrheit, die über kleinere Einkommen verfügt, verlor umgerechnet fast 650 Millionen Euro.

Armut in Ungarn: Ausgegrenzt in Orbáns "Arbeitsstaat"
SPIEGEL ONLINE: Orbáns antidemokratischer Umbau ist im Ausland bekannt, Stichwort "illiberale Demokratie". Weniger bekannt ist Umbau vom Sozial- zum sogenannten "arbeitsbasierten Staat". Wie sieht dieser Umbau aus?
Ferge: Die traditionelle Rentenversicherung nach Bismarckschem Muster gibt es nicht mehr, nur noch ihr Skelett existiert. Die staatliche Gesundheitsversorgung ist mangelhaft. Wer es sich leisten kann, steigt in die private Gesundheitsversorgung um. Bei Mindestrente und Kindergeld gibt es seit 2008 keine automatischen Anpassungen mehr. Die Sozialausgaben wurden systematisch auf ein Minimum gekürzt und noch bestehende, minimale Sozialleistungen an strenge Maßregelungsmöglichkeiten und Arbeitspflicht für die Empfänger gekoppelt.
Seit 2011 gilt in Ungarn für Sozialhilfeempfänger im arbeitsfähigen Alter eine Arbeitspflicht in sogenannten kommunalen Arbeitsprogrammen. Dabei können Behörden, Gemeindeverwaltungen, Institutionen oder auch Privatfirmen Sozialhilfeempfänger einstellen, die zusätzlich zu den umgerechnet etwa 100 Euro Sozialhilfe einen Arbeitslohn von rund 120 Euro erhalten. Die Palette der Tätigkeiten reicht von Straßen- und Grünflächenreinigung über Arbeit in der Landwirtschaft bis hin zu Bau- oder Handwerksarbeiten.
Sozialhilfeempfänger können dabei auch außerhalb ihres Wohnortes und landesweit zur Arbeit herangezogen werden. Wer sich weigert, verliert seinen Sozialhilfeanspruch. Die Orbán-Regierung hat die kommunalen Arbeitsprogramme seit 2011 stark ausgeweitet. Derzeit gibt es etwa 230.000 Beschäftigte in solchen Maßnahmen, was einem Anteil von 5,2 Prozent an der Gesamtzahl der Beschäftigten entspricht. Die Regierung argumentiert, die kommunale Arbeit eröffne Armen und Langzeitarbeitslosen einen Weg zurück auf den freien Arbeitsmarkt.
SPIEGEL ONLINE: Wie beurteilen Sie die Arbeitsprogramme?
Ferge: Sie helfen den Betroffenen kurzfristig, da der Lohn ja höher liegt als die Sozialhilfe. Ein Teil der kommunalen Arbeit ist auch nützlich. Anderseits zeigen Studien, dass die niedrige Entlohnung den Betroffenen langfristig nicht aus der Armut heraushilft und eher verhindert, dass sie auf dem freien Markt Arbeit finden. Auch weil es so gut wie keine Umschulungs- oder Ausbildungsprogramme gibt. Weil viele arm sind, ist die Nachfrage nach kommunalen Arbeitsplätzen zudem höher als das Angebot. Viele Leute betteln beim Bürgermeister, um an einen Arbeitsplatz zu kommen. Sie wissen, dass sie ihre Rechte und ihre Würde dabei lieber vergessen sollten.
SPIEGEL ONLINE: Sie weisen seit Langem darauf hin, dass der ungarische Staat solche Programme nutzt, um arme Menschen zu disziplinieren. Wie tut er das?
Ferge: Wer allgemeine Sozialhilfe erhält oder sich für Einzelfallhilfen an die Gemeindeverwaltung wendet, muss neben der Arbeitspflicht auch eine umfangreiche Einmischung in sein Privatleben dulden, etwa Ordnungs- und Hygienekontrollen in seinem Wohnumfeld. Wenn Leute Schulden haben oder wegen eines Unfalls oder Krankheit auf Hilfe angewiesen sind, entscheidet die Gemeindeverwaltung, ob sie hilft und wenn ja, in welchem Maße. Das kann sie an vielerlei Bedingungen knüpfen.
SPIEGEL ONLINE: Welche sind das?
Ferge: Zum Beispiel: Ist die Wohnung sauber und ordentlich gestrichen? Wie ist der Hof geführt, sind die Wohnverhältnisse hygienisch, gehen die Kinder regelmäßig zur Schule? Darüber hinaus sind Geld- und Freiheitsstrafen für Ordnungswidrigkeiten inzwischen ungewöhnlich hoch. Beispielsweise kann das Sammeln von Schnecken und Heilkräutern oder von Sperrmüll bestraft werden. Für kleinere technische Fehler an Fahrrädern können hohe Geldstrafen verhängt werden, das wird oft bei mittellosen Menschen in Dörfern praktiziert. Wir haben es mehr und mehr mit einem strafenden Staat zu tun. Ich würde sogar sagen, einem Staat, der Rache an den Armen übt, an jenen, die vermeintlich jahrelang auf Kosten der Steuerzahler gelebt haben. In den Augen von Fidesz-Politikern sind sie Schmarotzer und Parasiten.
SPIEGEL ONLINE: Viele Fidesz-Politiker tragen ihre Verachtung für arme Menschen mitunter regelrecht zur Schau.
Ferge: Orbán und Fidesz haben ein merkwürdiges Verhältnis zur Armut. Der Begriff kommt in ihrem öffentlichen Diskurs nicht vor, so als würden sie Armut gar nicht zur Kenntnis nehmen. Sie versuchen, die Armut für die Mehrheitsgesellschaft unsichtbar zu machen, durch eine Kombination aus Segregation und Isolierung armer Menschen an ihren Wohnorten. Ein zunehmender Teil der Armen in Ungarn wohnt in Dörfern, die Zahl der vergettoisierenden Siedlungen und Räume wächst ständig.
SPIEGEL ONLINE: Welche Folgen hat Orbáns Politik?
Ferge: Die Tragödie ist, dass die Wirtschaft insgesamt leidet, weil immer mehr Bereiche in die Hände von Orbáns Oligarchen übergehen. Kleinere und mittlere Unternehmen werden geschwächt. Wenn es Kritik an dieser Praxis oder Proteste dagegen gibt, dann stecken laut Orbán angeblich politische Aktivisten dahinter, die von George Soros bezahlt würden und ausländische Interessen gegen Ungarn durchsetzen sollten.
SPIEGEL ONLINE: Warum rebellieren die Armen in Ungarn eigentlich nicht?
Ferge: Die Mehrheit der Armen hat keine Ressourcen, keine Informationen und keine Organisationsmöglichkeiten - schon allein deshalb, weil es für die Armen nicht so einfach ist, aus den Dörfern in die Stadt zu kommen, sie haben zu wenig Geld, es gibt zu wenig öffentlichen Nahverkehr. Und in den Dörfern selbst finden keine Demonstrationen statt, weil die Leute Angst vor dem Bürgermeister haben und abhängig von ihm sind.