Grundsicherung Was an Hartz IV wirklich abgeschafft gehört

Wer die aktuelle Debatte um Hartz IV verfolgt, muss den Eindruck bekommen: Alles ist möglich. Selbst der neue Arbeitsminister und bislang aufrechte Agenda-Verteidiger Hubertus Heil sagt in der "Zeit" nun über den Begriff: "Der muss weg, ganz klar." Binnen fünf Jahren soll das System so reformiert sein, dass es einen neuen Namen verdient. Auf welches Reizwort er auch angesprochen wird, Heil zeigt sich demonstrativ offen: Die Höhe der Regelsätze, die Sanktionen - all das solle auf den Prüfstand.
Manchen Kritikern ist das viel zu wenig. Sie fordern die komplette "Abschaffung" von Hartz IV, wahlweise auch die "Überwindung" - und erhalten viel Zustimmung. 60 Prozent der Bürger wollen eine grundsätzliche Änderung von Hartz IV, rund 40 Prozent sogar eine "eindeutige". Das Problem ist nur: Niemand hat ein schlüssiges und mehrheitsfähiges Konzept, was danach kommen soll. Und wo Kritiker einen vermeintlichen Ersatz anbieten, erfüllt er diesen Anspruch schlicht nicht. Bestes Beispiel ist das "solidarische Grundeinkommen", von dem nicht einmal zehn Prozent der offiziell arbeitslosen Hartz-IV-Empfänger profitieren würden.
Entsprechend irritiert von den Forderungen nach einer Abschaffung zeigen sich die meisten Fachleute - vom wirtschaftsliberalen Forschungsinstitut IW Köln bis zum gewerkschaftsnahen WSI. Der Koblenzer Sozialwissenschaftler Stefan Sell, der Hartz IV seit Jahren von einem dezidiert linken Standpunkt aus kritisiert, nennt die Debatte "abgehoben" und "verlogen" und spricht von "Rosstäuscherei". Und Detlef Scheele, der sich als Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA) eigentlich zurückhalten muss, kann seinen Ärger kaum verhehlen: Die Politik, so der Behördenchef mit SPD-Parteibuch, solle sich nicht in Wortspielereien und Grundsatzdiskussionen verlieren, sondern endlich Gesetze auf den Weg bringen, die vielen Betroffenen konkret helfen.
Das Grundproblem: (Fast) alles hat seinen Preis
Dennoch kann die Debatte sinnvoll sein. Sie bietet die Chance zu einer umfassenden Bestandsaufnahme. Auch danach wird aber mit einer hohen Wahrscheinlichkeit kein vollkommen neues System stehen. Und ebenso wenig ist zu erwarten, dass Missstände zur Zufriedenheit aller abgestellt werden.
Denn bei Reformen des Sozialstaats gilt: Einfache Lösungen gibt es nicht. Wer ein Problem beseitigt, schafft oft an anderer Stelle neue. Das liegt einerseits an der Komplexität im Zusammenspiel von Sozialleistungen, Steuersystem und Arbeitsmarkt. Aber auch schon innerhalb eines Grundsicherungssystems selbst gibt es unauflösbare Zielkonflikte. (Stefan Sell beschreibt einige dieser Zwickmühlen hier ausführlich .)
Wo also sind die echten Baustellen bei Hartz IV? Was muss sich in jedem Fall ändern, was wäre wünschenswert? Und welche Nebenwirkungen muss man in Kauf nehmen?

Hartz-IV-Empfänger als Arbeitnehmer im Gartenbau
Foto: Waltraud Grubitzsch/ picture alliance / Waltraud GrubArbeit muss sich lohnen
Eigentlich ist klar: Aus der Grundsicherung kommt man nur durch Erwerbsarbeit, am besten in Vollzeit. Allerdings setzt das System kaum Anreize dazu: Von jedem Euro, den man über den Freibetrag von 100 Euro hinaus verdient, wird die Grundsicherung um 80 oder sogar 90 Cent gekürzt. "Das Signal ist: Ihr dürft maximal marginal arbeiten. Und je mehr ihr arbeitet, desto mehr bestrafen wir euch", sagt der Ökonom Andreas Peichl vom Ifo-Institut.
Nicht nur Peichl hält diese hohe sogenannte Transferentzugsrate für ein dringendes Problem. Auch Anke Hassel, Chefin des gewerkschaftsnahen WSI-Instituts, sagt: "Der Anreiz, statt in einem Minijob in Teil- oder Vollzeit zu arbeiten, ist gering." Es spricht also einiges dafür, die Zuverdienstgrenzen für Empfänger von Arbeitslosengeld II und anderer Sozialleistungen zu erhöhen, sodass sie 30 oder sogar 50 Cent von jedem verdienten Euro behalten dürfen.
Doch diese Maßnahme hätte auch Kehrseiten: So würde die Zahl der Menschen im System sprunghaft ansteigen. Wenn zum Beispiel eine Familie mit zwei Kindern heute bis zu einem Bruttoeinkommen von 30.000 Euro im Jahr Anspruch auf Aufstockung mit Hartz IV hätte, könnte sie diesen Anspruch künftig bis zu einem Einkommen von 40.000 Euro haben. Außerdem würde der Staat de facto weite Teile des Niedriglohnsektors subventionieren. Eigentlich müsste daher gleichzeitig auch der Mindestlohn deutlich angehoben werden - was dann wirklich Arbeitsplätze gefährden könnte.
Faire Regelsätze und Wohnkosten
Die Hartz-IV-Regelsätze sollen eigentlich das Existenzminimum abdecken. Doch dieses wird auf einer fehlerhaften statistischen Grundlage berechnet - und ist deshalb zu niedrig. Außerdem sollte noch eine Flexibilitätsreserve eingerechnet werden, um je nach den persönlichen Umständen im Budget umschichten zu können. Nach Caritas-Berechnungen müsste der Regelsatz für einen Single daher statt 416 Euro um rund 60 Euro höher liegen. (Hier finden Sie eine ausführliche Analyse.)
Zumindest der statistische Fehler müsste zwingend behoben werden, er gehört nicht zum politischen Spielraum. Dadurch eröffnen sich Hartz-IV-Empfängern allerdings keine neuen Welten. Die Größenordnung des statistischen Fehlers allein mag bei etwas mehr als zehn Euro liegen - die gesellschaftliche Teilhabe bliebe auf ein Minimum begrenzt. Immerhin könnte es das Gefühl lindern, ungerecht behandelt zu werden.
Die Kehrseiten: Die Zahl der Hartz-IV-Empfänger würde ebenfalls steigen. Und weil das Existenzminimum auch den Grundfreibetrag bei der Einkommensteuer festlegt, entgingen dem Staat Einnahmen.
Die rigide niedrigen Regelsätze wirken sich noch an anderer Stelle fatal aus: Nahezu 600 Millionen Euro mussten Hartz-IV-Empfänger im Jahr 2016 aus eigener Tasche bezahlen, weil ihre Wohnkosten nicht voll vom Jobcenter gezahlt wurden. Anderenfalls müssen sie umziehen. Insbesondere in Städten mit drastisch steigenden Mieten ist das lebensfern und eine unzumutbare Belastung für die Betroffenen.
Intensivere Betreuung
Ein Betreuer für 150 Hartz-IV-Empfänger, so schreibt es das Gesetz vor, doch einige Jobcenter verfehlen diese Vorgabe. Ohnehin wäre eine Quote von 1:60 bis 1:90 besser - Modellversuche zeigen, dass dann doppelt so viele Menschen in Arbeit vermittelt werden können. Doch den Jobcentern fehlt Geld für nötiges Personal. Seit 2013 ist ihr Haushalt gedeckelt, seitdem schichten sie immer mehr Geld vom Topf für Arbeitsmarktmaßnahmen in die Verwaltung um - dieses Jahr werden es rund eine Milliarde Euro sein.
BA-Chef Scheele fordert daher dringend mehr Geld, auch um Menschen in ihren speziellen Lebenssituationen helfen zu können. So besorgen Jobcenter mitunter Kita-Plätze für Alleinerziehende oder organisieren eine Schuldnerberatung. "Wenn wir nicht helfen beim Sortieren, passiert da gar nichts", sagt Scheele. Erst dann kann oft überhaupt mit der eigentlichen Vermittlung begonnen werden.

Aktenstapel in einem Berliner Jobcenter
Foto: Sean Gallup/ Getty ImagesWeniger Bürokratie
Die Verwaltungskosten sind aber auch deshalb so hoch, weil die Berechnung der Leistungen oft hanebüchen kompliziert ist. Wenn ein Kind etwa zwischen den getrennten Eltern wechselt, wird dessen Regelbedarf fein säuberlich tageweise aufgeteilt - in solchen Fällen haben die Bescheide mitunter 190 Seiten Umfang. Zudem gibt es einen finanziellen Anreiz, das Umgangsrecht des anderen Elternteils einzuschränken.
Viele Dinge sind übertrieben detailliert geregelt, für dezentrales Warmwasser gibt es etwa für Kinder je nach Altersstufe ein paar Cent mehr oder weniger im Monat. Das ist nicht nur kleinlich, sondern produziert enorme Bürokratie. Denn wenn das Kind Geburtstag hat und eine neue Altersstufe erreicht, muss ein neuer Bescheid erstellt werden.
Rund 30 Millionen Bescheide kamen so im vergangenen Jahr zusammen, bei rund 3,3 Millionen Bedarfsgemeinschaften. Das dafür benötigte Personal fehlt bei der Betreuung und Vermittlung. Inzwischen geben die Jobcenter 62 Prozent des Geldes für die Verwaltung aus und nur 38 Prozent für die Vermittlung.
Hinter der überbordenden Bürokratie steckt zumeist gute Absicht: das Streben nach Einzelfallgerechtigkeit. Dennoch spricht viel dafür, mehr Leistungen als Pauschalen auszuzahlen und diese eher großzügig zu bemessen. Auch die Einführung von Bagatellgrenzen etwa bei Rückzahlungen von Leistungen ist sinnvoll.
Sanktionen abschaffen oder entschärfen
Weil die Regelsätze das Existenzminimum abdecken sollen, ist es grundsätzlich heikel, diese zur Strafe zu kürzen. Dennoch enthielten im vergangenen Jahr 953.000 der rund 30 Millionen Bescheide solche Kürzungen; die meisten um zehn Prozent wegen Meldeversäumnissen.
Doch auch wenn man auf dieses Instrument nicht verzichten möchte, müssten sie zumindest für Empfänger unter 25 Jahren entschärft werden: Ihnen kann nicht nur der Regelsatz komplett gestrichen werden, sondern sogar die Übernahme der Wohnkosten. Einige Betroffene brechen daraufhin den Kontakt zum Jobcenter ganz ab, andere rutschen in die Kriminalität, wieder andere werden obdachlos. Das widerspricht den Zielen des Grundsicherungssystems.
BA-Chef Scheele fordert, die drakonischen Regelungen für Jugendliche abzuschaffen und sie genau so zu behandeln wie über 25-Jährige. Eigentlich sollte das bereits in der vergangenen Legislaturperiode geschehen, scheiterte dann aber am Widerstand der CSU.

Großfamilie im Grundsicherungssystem
Foto: Bernd W¸stneck/ picture alliance / dpaGerechtigkeitsprobleme
Diese konkreten Maßnahmen würden bereits vieles verbessern, jedoch wenig am Hartz-IV-System ändern. Dieses weist grundsätzliche Schieflagen auf, die von vielen als eklatant ungerecht empfunden werden - und die auch zu einer umfassenden Bestandsaufnahme gehören. Nur zwei Beispiele:
Erstens: Ob jemand Jahrzehnte lang gearbeitet, Steuern und Sozialabgaben gezahlt hat - oder das noch nie getan hat: Hartz IV behandelt beide vollkommen gleich. Das war eine bewusste Entscheidung im Zuge der Agenda-Reformen und sollte die bis dahin bestehende Ungerechtigkeit beseitigen, dass ehemalige Arbeitnehmer unbegrenzt von vergleichsweise komfortabler Arbeitslosenhilfe leben konnten, während andere im Sozialhilfesystem steckten und keinerlei Unterstützung beim Einstieg in den Arbeitsmarkt bekamen.

Ehemaliger Angestellter des insolventen Quelle-Versands (2009)
Foto: Miguel Villagran/ Getty ImagesKünftig könnte eine Abstufung eingeführt werden. So könnte ehemaligen Arbeitnehmern etwa zugestanden werden, mehr von ihrem selbst erarbeiteten Vermögen behalten zu dürfen. Auch etwas höhere Regelsätze für sie wären eine Möglichkeit, das System gerechter zu machen.
Und nicht zuletzt könnten die harschen Zumutbarkeitsregeln gelockert werden, die ohnehin aus der Zeit gefallen sind: Wenn vielerorts in Deutschland nahezu Vollbeschäftigung herrscht, müssen Menschen nicht mehr in Jobs weit unter ihrer Qualifikation gezwungen werden. Diese Maßnahmen würden den bislang krassen Absturz beim Übergang vom Arbeitslosengeld in Hartz IV abfedern und die in der Mittelschicht zu Recht existierende Angst vor einem Fall ins Bodenlose mildern.
Zweitens: Hartz IV ist die Grundsicherung für Arbeitsuchende - wer sie bekommt, sollte also in der Lage sein, durch eigene Arbeit wieder aus dem System zu kommen. Es ist auch deshalb so unkomfortabel gestaltet worden, damit niemand auf Dauer darin leben möchte und auch schlecht bezahlte Arbeit annimmt.
Dann aber sollten keine Personengruppen darin leben, die ganz offensichtlich keine Chance haben, auf diesem Weg aus dem System zu kommen. Derzeit trifft das auf einige zu, etwa auf:
- Kranke: Die Definition von Erwerbsfähigkeit ist in Deutschland weit strenger als in anderen Ländern. Es reicht, lediglich drei Stunden am Tag arbeiten zu können. Damit kann man aber seinen Lebensunterhalt nicht verdienen. Es ist fraglich, ob Menschen mit einer solch starken Erwerbsminderung tatsächlich in ein solches System gehören, dem sie nicht entkommen können - oder ob ihnen nicht ein System zusteht, das ihrer Bedürftigkeit gerecht wird.
- Kinder: Sie sind per Definition nicht arbeitsuchend. Es gibt Modelle für eine eigenständige Kindergrundsicherung, die geprüft werden sollten.
- Alleinerziehende: Ihr Risiko, in Hartz IV zu landen, ist statistisch um ein Vielfaches höher als für gemeinsam erziehende Eltern. Ein großer Teil ist auch nicht wirklich arbeitsuchend, sondern hat einen Job, kann aber nicht Vollzeit arbeiten. Es stellt sich die Frage, ob sie wirklich in ein System für Arbeitsuchende gehören.