Wegweisendes Verfassungsurteil
Regierung stellt sich auf Hartz-IV-Korrektur ein
Bekommen Kinder zu wenig Hartz IV? Ist die Sozialreform mit dem Grundrecht auf menschenwürdige Existenz vereinbar? Das Verfassungsgericht entscheidet jetzt darüber - und die Regierung stellt sich schon auf Änderungen ein. SPIEGEL ONLINE analysiert, was gilt, was das Problem ist und wieso das Urteil Milliarden kosten könnte.
Hamburg - Glaubt man den Klägern, geht es um die Menschenwürde von rund 1,7 Millionen Kindern in Deutschland. So viele Minderjährige beziehen derzeit Hartz-IV-Leistungen. Wie viel Geld ein Kind in diesem Land braucht, sei nicht nur eine Frage der Existenzsicherung, argumentieren die Kritiker. Es gehe um Bildung, um Startmöglichkeiten, um Gleichheit - um die Chance, später nicht selbst zum Sozialfall zu werden.
Über genau diese Fragen wird das Bundesverfassungsgericht am Dienstag entscheiden: Darüber, ob die Hartz-IV-Regelsätze für Kinder verfassungskonform sind.
Hinter den Verfahren zum Thema Hartz IV für Kinder stehen drei klagende Familien aus Nordrhein-Westfalen, Bayern und Hessen. Die Chancen, dass sie erfolgreich sind, stehen gut. Schon im Januar vergangenen Jahres hat das Bundessozialgericht die Berechnung der Hartz-IV-Sätze für Kinder bis 14 Jahre für verfassungswidrig erklärt. Die Richter sahen das Problem bei der Berechnung vor allem darin, dass die Sätze für Kinder lediglich durch einen pauschalen Abschlag auf die Hartz-IV-Beträge für Erwachsene festgelegt wurden - siehe Tabelle:
Errechnung der Hartz-IV-Regelsätze (Stand 2003)
Kategorie
Ausgaben*
Anteil in Prozent, den die Regierung Hartz-IV-Empfängern anerkennt
Hartz-IV-Bezug in Euro
Nahrungsmittel, Getränke, Tabakwaren
133
96%
127
Bekleidung und Schuhe
34
100%
34
Wohnen einschl. Energie, -instandhaltung
322
8%
24
Einrichtungs-, Haushaltsgegenstände
27
91%
25
Gesundheitspflege
18
71%
13
Verkehr
59
26%
16
Nachrichtenübermittlung
40
75%
30
Freizeit, Unterhaltung, Kultur
71
55%
39
Bildungswesen
7
0%
0
Beherbergungs- /Gaststättendienstleistung
28
29%
8
Andere Waren und Dienstleistungen
40
67%
27
Insgesamt
779
Insgesamt ohne Wohnkosten
483
345
*Errechnung des Hartz-IV-Satzes auf Basis der Verbrauchsausgaben der untersten 20 Prozent der nach Nettoeinkommen geschichteten alleinstehenden Haushalte. Empfänger, die überwiegend von Leistungen der Sozialhilfe gelebt haben, sind nicht berücksichtigt. Quelle: EVS 2003
**Seit 1. Juli 2009 beträgt der Regelsatz 359 .
Jetzt steht diese Praxis auf der Kippe. Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) sagte der Münchner "Abendzeitung", sie erwarte einen Auftrag des Gerichts an den Gesetzgeber, "bei Hartz IV noch mal deutlich nachzubessern". Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) stellt sich darauf ein, dass das Gericht " uns Leitplanken und mächtig Hausaufgaben" gibt. Gerade bei Kindern müsse genau definiert werden, was sie brauchen - nicht nur in Bezug auf Geld, sondern auch auf Bildung und Teilhabe. Sie könne sich auch Sachleistungen vorstellen wie Nachhilfe- und Sportunterricht oder warmes Schulessen vorstellen, sagte von der Leyen. Sie erwarte vom Gericht "keine Schwarz-weiß-Entscheidung".
Sozialverbände hoffen auf Hartz-IV-Revision
Die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Ulrike Mascher, sagte der "Neuen Osnabrücker Zeitung", sie hoffe auf deutlich mehr Unterstützung für die Kinder von Hartz-IV-Empfängern - wie auch der Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider. Er forderte in der "Nordwest-Zeitung", ein bedarfsorientierter Satz für Kinder müsse um 25 bis 30 Prozent höher ausfallen als bisher. Der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, sagte im Deutschlandradio Kultur, Deutschland sei das einzige Land der Welt, das Kinder aus reichen Familien stärker fördere als Kinder aus armen Familien. Er sprach sich für eine allgemeine Grundsicherung für alle Kinder aus.
Der designierte Vorsitzende der Linken, Klaus Ernst, forderte Sofortmaßnahmen für Betroffene. "Für eine Übergangszeit sollten die Kindergelderhöhungen seit 2008 nicht mehr auf die Hartz- IV-Leistungen angerechnet werden", sagte er.
Der Erste Senat des Verfassungsgerichts unter dem Vorsitz von Präsident Hans-Jürgen Papier will erstmals auch grundsätzlich Stellung beziehen zum sogenannten Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. Damit könnte das Karlsruher Urteil sogar die Sozialreform ganz kippen - und den hoch verschuldeten Staat weitere Milliarden kosten.
Wie funktioniert das System bisher, welche Probleme birgt es? Und welche Konsequenzen hätte es, wenn die Verfassungsrichter eine Korrektur fordern? SPIEGEL ONLINE beantwortet die wichtigsten Fragen zum Verfahren:
Wie funktioniert die Berechnung von Hartz-IV-Bezügen für Kinder bisher?
Bislang lässt die Regierung alle fünf Jahre auf Basis der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) vom Statistischen Bundesamt berechnen, wie viel Geld einem Hartz-IV-Empfänger zusteht. Um die Hartz-IV-Bezüge für Kinder zu berechnen, macht sie es sich allerdings einfach: Kinder erhalten schlicht prozentual weniger Geld als ihre arbeitslosen Eltern.
Alleinstehende Erwachsene bekommen derzeit 359 Euro monatlich, für ihre Partner sind es 323 Euro - immer zuzüglich der Kosten für Unterkunft und Heizung. Für Kinder unter sechs Jahren gibt es danach 60 Prozent des Erwachsenensatzes (215 Euro), unter 14 Jahren bekommen sie 70 Prozent (251 Euro), darüber 80 Prozent (287 Euro). Das Kindergeld wird damit verrechnet, für Schüler gibt es allerdings noch 100 Euro jährlich extra.
Kritiker halten diesen Ansatz für falsch - weil Kinder ganz andere Bedürfnisse haben als Erwachsene. Das werde aber ignoriert, wenn einfach der Erwachsenensatz mit einem pauschalen Abschlag verwendet würde, argumentierten die Richter vom Bundessozialgericht in Kassel ihr Urteil. "Für Erwachsene sind zum Beispiel keine Bildungsausgaben vorgesehen", sagt auch Andreas Kalbitz vom Deutschen Kinderschutzbund SPIEGEL ONLINE. "Dementsprechend ist auch ein solcher Posten nicht für Kinder vorgesehen. Der Regelsatz wird dem besonderen Bedarf von Kindern nicht gerecht."
Tabakgeld für Säuglinge - warum die bisherige Praxis problematisch ist
Tatsächlich produziert die bisherige Vorgehensweise einige Kuriositäten. Dass das stimmt, weiß jeder, der selbst Kinder zu versorgen hat: Sie kosten nicht unbedingt weniger als Erwachsene, brauchen Windeln, einen Kinderwagen und Spielsachen. Sie müssen in den Kindergarten und brauchen öfter neue Kleidung, ganz einfach weil sie wachsen. In der Schule entstehen Zusatzkosten für Klassenfahrten oder Unterrichtsmaterial.
Gleichzeitig führen die pauschalen Regelsätze für Kinder zum Teil zu absurden Konsequenzen: So stehen etwa Säuglingen statistisch betrachtet 11,90 Euro für Tabakwaren und alkoholische Getränke zur Verfügung, aber kein einziger Euro für Windeln.
Außerdem ist gesunde Ernährung nach Berechnungen des Forschungsinstituts für Kinderernährung (FKE) mit den Hartz-IV-Sätzen nicht möglich. Der tägliche Lebensmittelbedarf eines Elfjährigen liegt demnach mindestens bei 5,71 Euro - nach aktueller Bemessung bekommen Eltern für ein Hartz-IV-Kind aber nur einen Tagessatz von 2,60 Euro. Auch der Wohlfahrtsverband hält die gegenwärtigen Hartz-IV-Sätze für rund 20 bis 30 Prozent zu niedrig.
Deshalb rechnet Monika Paulat, Präsidentin des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg, damit, dass das Verfassungsgericht die Ableitung der Regelsätze "heftig kritisieren" wird. Besonders bei den Hartz-IV-Sätzen für Kinder sei die eher kritische Haltung der Richter bei den mündlichen Verhandlungen des Bundesverfassungsgerichts bereits im Oktober deutlich geworden. "Es ist einfach nicht klar, warum die Sätze für Kinder prozentual kalkuliert wurden. Es muss nachvollziehbar sein und darf nicht wirken wie aus der Luft gegriffen", sagt Paulat SPIEGEL ONLINE.
Hartz IV in der Generalkritik - was passiert, wenn die Richter die Praxis kippen?
Das letzte Wort hat jetzt das Bundesverfassungsgericht. Konkrete Anweisungen an die Politik zur Höhe des künftigen Satzes für Kinder werden die Karlsruher Richter am Dienstag aber nicht geben. Allenfalls werden sie den Gesetzgeber dazu auffordern, die Regelsätze anzupassen, und dafür eine Frist setzen. "Die wird sicher nicht allzu lang sein", schätzt Landessozialgerichtspräsidentin Paulat. "Wahrscheinlich kürzer als ein Jahr.
Das Urteil wird auch deshalb mit Spannung erwartet, weil die Verfassungsrichter außerdem erstmals grundsätzlich Stellung beziehen wollen zum sogenannten Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum - und das könnte auch Auswirkungen auf die Hartz-IV-Bezüge von Erwachsenen haben. Werden sie erhöht, könnte das den hoch verschuldeten Staat Milliarden kosten. Schon im vergangenen Jahr summierten sich die Hartz-IV-Leistungen auf den gigantischen Betrag von 45 Milliarden Euro.
Die Chancen auf Erfolg von Seiten der Langzeitarbeitslosen stehen hier ebenfalls nicht schlecht. Paulat rechnet damit, dass das Gericht die Höhe der Regelsätze für Erwachsene für nicht ordnungsgemäß halten wird.
Sollte das Gericht tatsächlich so entscheiden, hätte es einen Großteil der Bürger auf seiner Seite. Nach einer kürzlich veröffentlichten Umfrage des "Stern" hält 61 Prozent der Bevölkerung die Leistungen für Langzeitarbeitslose für zu niedrig.