US-Arbeitslosigkeit in der Coronakrise Wer nicht gebraucht wird, fliegt

Die Coronakrise offenbart Amerikas Ungleichheit in aller Härte: Millionen von Niedriglöhnern riskieren ihre Gesundheit - oder verlieren von einer Woche auf die andere den Job. Es regt sich Widerstand.
Von Ines Zöttl, Washington
New York: Arbeitsamt geschlossen, wegen Corona

New York: Arbeitsamt geschlossen, wegen Corona

Foto: John Minchillo/ AP

Für die Musiker des National Symphony Orchestra der USA ist der Schlussakkord erklungen. An diesem Freitag erhalten die Geiger, Bläser und Bassisten ihren letzten Lohnscheck. Mit einer Frist von einer Woche hat das Kennedy Center in Washington die 96 Mitglieder des renommierten Orchesters vor die Tür gesetzt. Wegen der Coronavirus-Pandemie fänden keine Konzerte mehr statt - also könne man auch die Künstler nicht mehr bezahlen, teilte die Präsidentin des Centers der Orchesterleitung in einer Konferenzschalte mit.

Amerikas Arbeitsmarkt funktioniert nach einer simplen Logik: Wer nicht gebraucht wird, fliegt. Mehr als 6,6 Millionen Menschen haben sich vergangene Woche arbeitslos gemeldet – eine unvorstellbare Zahl, die alle Prognosen weit übertraf. 

Allein der Einzelhandel hat nach Schätzungen binnen einer Woche knapp eine Million Menschen in den unbezahlten Zwangsurlaub geschickt. "Die Schleusen sind weit offen", sagte Mark Cohen von der Columbia Business School der "Washington Post". Trump hatte angekündigt, die USA an Ostern wieder aus der Pandemie-Zwangspause zu holen, doch seit sich das als Wunschtraum entlarvt habe, suchten die Unternehmen nach Wegen, um die Krise irgendwie zu überstehen.

Dabei hat die Freistellung für die Betroffenen immerhin einen Vorteil: Anders als bei einer Kündigung behalten sie ihre Krankenversicherung. Eine Jobgarantie aber gibt es nicht.

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 Allein die Kaufhauskette Macy's, deren 775 Filialen verwaist sind, hat 125.000 Beschäftigte freigesetzt. Auch die Modemarke Gap will ihre Verkäufer nicht mehr bezahlen. Auf eine originellere Lösung verfiel der größte Nahrungsmittellieferant für Gaststätten in den USA, Sysco: Er verleiht nun Arbeiter an den Einzelhandelsriesen Kroger, der den Run der Verbraucher auf Klopapier und Wasser bewältigen muss. Doch die halbe Million offene Stellen bei Unternehmen wie Kroger, Walmart oder Amazon können den Trend nicht aufhalten.

Die Federal Reserve Bank von St. Louis schätzte, wenn auch vor der Verabschiedung des Zwei-Billionen-Dollar-Hilfspakets, dass die Zahl der Beschäftigten um 47 Millionen schrumpfen könnte. Einen solchen Schock habe "die US-Wirtschaft in den vergangenen 100 Jahren nicht erlebt", schrieb der Autor des Forschungspapiers, Miguel Faria-e-Castro. Insgesamt wären dann knapp 53 Millionen Amerikaner arbeitslos, drei Mal so viele wie während der Großen Depression der Dreißigerjahre. Die Arbeitslosenrate würde über die Marke von 30 Prozent steigen.

Dass ausgerechnet die führende Wirtschaftsmacht zum Hotspot der Massenarbeitslosigkeit wird, liegt nicht nur daran, dass die USA eine Dienstleistungsgesellschaft sind. Dahinter stehe eine "amerikanische Besonderheit", urteilen die Ökonomen Emmanuel Saez und Gabriel Zucman, die mit ihren Arbeiten zur Ungleichheit bekannt geworden sind: "In kaum einem anderen Land werden Jobs derart schnell zerstört."

Deutschland zum Beispiel schütze die Beschäftigung durch Kurzarbeit, für die Dauer der Krise würden die Löhne auf diese Weise "sozialisiert", schreiben die Wissenschaftler der Berkeley-University in einem Beitrag in der "New York Times". In Amerika dagegen wird im Abschwung entlassen und im Aufschwung wieder eingestellt. Dazwischen liegen Angst der Betroffenen, Bürokratie und die Zerstörung von Millionen Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen.

Vom Rausschmiss besonders gefährdet sind der Fed-Analyse zufolge diejenigen, die es eh nicht dicke haben: die Geringverdiener. Zum Beispiel in der Restaurantbranche, wo 40 Prozent der Beschäftigten kaum über die Armutsgrenze kommen. Der bundesgesetzliche Mindestlohn für Trinkgeld-Berufe liegt bei 2,13 Dollar je Stunde. Nur wenn das Trinkgeld nicht reicht, muss der Arbeitgeber auf das sonst geltende Minimum von 7,25 Dollar aufstocken.

Der ökonomische Coronavirus-Schock sei "geradezu maßgeschneidert, um selbst die bescheidenen Wohlstandsgewinne zunichtezumachen, die die verwundbarsten Menschen und Gemeinden seit der letzten Rezession erzielt haben", sagte John Lettieri von der Denkfabrik Economic Innovation Group der Zeitung "The Hill". Manche Regionen trifft es besonders hart. So arbeitet im Spielerparadies Las Vegas rund ein Drittel der Beschäftigten in Branchen, deren Geschäft das Virus lahmgelegt hat.

Immerhin will der Staat den Absturz in dieser Krise abfedern. Der Kongress hat beschlossen, dass jeder Arbeitslose vier Monate lang zusätzlich 600 Dollar pro Woche bekommt. Das entspricht etwa einem Stundenlohn von 15 Dollar. Mehrere republikanische Senatoren bemängelten, dass manche Leute durch die Staatshilfe mehr bekämen, als sie verdienen würden. Nach einem Wutanfall des demokratischen Präsidentschaftsbewerbers Bernie Sanders ("Oh mein Gott, wird das Universum das überleben?") kam die Regelung aber durch.

Auch in Amerika wächst das Unwohlsein an der gesellschaftlichen Kluft, die mit der Pandemie auf brutale Weise offensichtlich wird. Eine Umfrage im Auftrag des Nachrichtenportals Axios zeigt , dass der Anteil derer, die weiter zur Arbeit gehen, in den untersten sozioökonomischen Schichten deutlich höher ist als bei den Besserverdienern. "Es ist die Geschichte zweier Amerika", sagte Cliff Young vom Meinungsforschungsinstitut Ipsos: Die Hochqualifizierten arbeiten von zu Hause und werden ihren Job wohl behalten. Die anderen tragen das doppelte Risiko.

Die Besserverdienenden sind dabei auch noch unglücklicher. Genauer gesagt: Bei denen mit einem Median-Haushaltseinkommen von 200.000 Dollar fühlen sich 47 Prozent im emotionalen Wohlbefinden beeinträchtigt; in der Schicht, die nur auf 15.000 Dollar kommt, sind es 34 Prozent.

Bislang ist der Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse leise, aber er wächst.

  • Die Autogewerkschaft übte Druck auf die Detroiter Konzerne aus, ihre Fabriken zu schließen. Inzwischen stehen alle Werke von GM, Ford und Fiat Chryler still.

  • Krankenschwestern in den Bundesstaaten New York, Georgia, Illinois und Kalifornien demonstrierten vor den Kliniken für bessere Schutzausrüstung.

  • Müllwerker in Pittsburgh organisierten einen Protest gegen die Arbeitsbedingungen.

  • Beschäftigte des Ökosupermarkts Whole Foods riefen ihre Kollegen zum "Krankheits-Dienstag" auf. Auch beim Lieferdienst Instacart streikten einige Kuriere.

Zu Protesten kam es auch beim Onlinegiganten Amazon, dem Mitarbeiter vorwerfen, sich zu wenig um ihren Schutz zu kümmern. Der Mann, der am Verteilzentrum Staten Island einen Kurzstreik organisierte, ist nun arbeitslos. Christian Smalls sagt, er sei wegen seines Aktivismus gefeuert worden. Amazon wirft Smalls vor, die Leitlinien zum sozialen Abstand missachtet zu haben. New Yorks Bürgermeister Bill de Blasio hat angekündigt, den Fall zu untersuchen.

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