
Ungleichheit, Reformstau, marode Infrastruktur Die Illusion vom deutschen Wirtschaftsboom


Marode Brücke: Investitionen in die Infrastruktur sind überfällig
Foto: Fredrik von Erichsen/ picture alliance / dpaWas erwartet Deutschland im neuen Jahr?
In einer kleinen Serie geben Experten auf SPIEGEL ONLINE Antworten - von der Wirtschaft über Außenpolitik bis zur Einwanderung.

Marcel Fratzscher ist einer der renommiertesten Ökonomen Deutschlands. Er ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, Professor für Makroökonomie und Finanzen an der Berliner Humboldt-Universität und Mitglied im Beirat des Bundesministeriums für Wirtschaft.
Deutschland durchlebt eine Zeit der großen Selbstzufriedenheit. Unsere Wirtschaft boomt, wir sind Exportweltmeister und wir sollten uns nun endlich einmal belohnen für unsere starken wirtschaftlichen Leistungen - so zumindest die weitverbreitete Wahrnehmung.
Diese Wahrnehmung ist jedoch nur eine Illusion - und noch dazu eine gefährliche. Selten konnte und musste die deutsche Politik so wichtige Weichenstellungen für die wirtschaftliche Zukunft des Landes setzen wie gegenwärtig. Sie ist jedoch auf dem besten Wege, diese Chancen verstreichen zu lassen.
Wir sind zu Recht stolz auf drei wichtige wirtschaftspolitische Erfolge der vergangenen Jahre:
- Die Beschäftigung ist stark gestiegen, die Arbeitslosigkeit zugleich gesunken.
- Die öffentlichen Haushalte haben Überschüsse erwirtschaftet.
- Und unsere Exportunternehmen sind sehr wettbewerbsfähig.
Die deutsche Wirtschaft erlebt jedoch keinen Boom: Seit dem Start des Euro im Jahr 1999 ist sie um drei Prozent weniger gewachsen als die französische Volkswirtschaft und um zehn Prozent weniger als die spanische. Wir erleben heute lediglich einen Aufholprozess von dem, was wir in den Zweitausenderjahren an wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit gegenüber unseren europäischen Nachbarn verloren haben.
Die Erwartung für das Wirtschaftswachstum in den Jahren 2016 und 2017 - um die 1,7 Prozent - klingt ordentlich, ist jedoch enttäuschend. Denn ohne die massiven zusätzlichen Ausgaben für Flüchtende - nach Schätzungen 15 bis 30 Milliarden Euro oder 0,5 bis 1,0 Prozent pro Jahr - würde sich das Wirtschaftswachstum in Deutschland in den kommenden Jahren deutlich abschwächen. Die Ausgaben für Flüchtende kommen praktisch einem massiven Konjunkturprogramm gleich, ähnlich dem der ersten Großen Koalition während der globalen Finanzkrise.
Die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland weist drei fundamentale Schwächen auf.
- Zum Ersten ist das Wirtschaftswachstum zu einseitig und unausgewogen - es wird fast ausschließlich vom Konsum getrieben. Investitionen dagegen sind schwach und gehören zu den niedrigsten aller Industrieländer.
- Der zweite Widerspruch ist die schlechte Produktivitätsentwicklung. Trotz eines guten Arbeitsmarkts und Wirtschaftswachstums ist das Verhältnis von Arbeitseinsatz zum Produktionsergebnis enttäuschend.
- Und drittens macht der deutsche Staat zwar Überschüsse, die öffentliche Infrastruktur dagegen befindet sich seit vielen Jahren im Verfall.
Die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands in den kommenden Jahren wird von drei großen, zentralen Trends bestimmt werden.
- Der erste ist die hohe und steigende Ungleichheit. Deutschland ist eines der Industrieländer mit der höchsten Ungleichheit bei Vermögen, Einkommen und Chancen. Viel zu wenige Menschen in Deutschland haben eine echte Chance, ihre Fähigkeiten zu nutzen - mit dem Resultat, dass die Ungleichheit bei Markteinkommen und Vermögen in den vergangenen Jahrzehnten massiv angestiegen ist. Hierbei geht es um sehr viel mehr als Gerechtigkeit, denn diese hohe Ungleichheit reduziert das Wachstum und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Deutschlands.
- Der zweite Trend ist der Verfall der öffentlichen Infrastruktur - seit dem Jahr 2000 hat der Wert der öffentlichen Infrastruktur um fast 500 Milliarden Euro abgenommen. Das sind 20 Prozent einer jährlichen Wirtschaftsleistung. Der engstirnige Blick auf die "schwarze Null" im Bundeshaushalt ist daher unangebracht. Denn die Nachhaltigkeit des öffentlichen Haushalts wird nicht nur durch die Ausgaben bestimmt, sondern davon, wie der Staat mit seinem Vermögen umgeht - oder genauer gesagt: mit dem Vermögen seiner Bürger. Und in dieser Frage sind alle Bundesregierungen der vergangenen 20 Jahre daran gescheitert, das öffentliche Vermögen nicht nur für die gegenwärtige, sondern vor allem für zukünftige Generationen zu sichern. Es gibt leider keinerlei Anzeichen, dass sich dies in den kommenden Jahren grundlegend ändern wird, denn die Versprechen der Politik für deutlich mehr öffentliche Investitionen sind bisher nicht eingelöst worden. Die Ausgaben für Flüchtende werden nun als Vorwand genutzt, um öffentliche Investitionen zu begrenzen. Dabei erfordert eine erfolgreiche Integration der Geflüchteten genau das Gegenteil, nämlich einen deutlichen Anstieg der öffentlichen Ausgaben für Infrastruktur und Bildung.
- Der dritte große Trend ist eine Reformmüdigkeit und ein schleichender Verfall des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Trotz boomender Konsumnachfrage investieren deutsche Unternehmen immer weniger in Deutschland und immer mehr im Ausland. Unternehmen klagen über eine schlechte Infrastruktur, fehlende Fachkräfte, steuerliche Fehlanreize, eine überbordende Bürokratie und falsche Regulierung in Deutschland. Vor allem innovativen, jungen Unternehmen werden im internationalen Vergleich immer noch zu viele Barrieren in den Weg gelegt. Reformen sind nur notwendig für unsere europäischen Nachbarn, nicht für uns - so der Irrglaube mancher in Deutschland.
Deutschland befindet sich heute auf dem Höhepunkt seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der letzten beiden Jahrzehnte. Die hohe Wettbewerbsfähigkeit, ein starker Arbeitsmarkt und solide öffentliche Finanzen eröffnen der Politik die Chance, die Weichenstellungen für die Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland und des langfristigen Wohlstands zu setzen. Die Erfahrung lehrt uns jedoch, dass Volkswirtschaften häufig erst in Bedrängnis geraten müssen, bis die Politik den Willen aufbringt, um notwendige Reformen umzusetzen. Die kommenden Jahre könnten deshalb Jahre der verpassten Chancen werden.
Lesen Sie aus der Serie auch:
Volker Perthes: Deutsche Außenpolitik 2016: Die Herausforderungen
Naika Foroutan: So kann Deutschland bei der Zuwanderung zum Trendsetter werden