Globale Wirtschaft Ausgewachsen

Bankentürme in Frankfurt: Kann die Wirtschaft noch höher hinauswachsen?
Foto: Boris Roessler/ dpaSeit Jahren ist es der gleiche Streit, auf dem G20-Gipfel wiederholt er sich nun erneut: US-Finanzminister Jack Lew fordert ein globales Konjunkturpaket, gerade Länder mit hohen Leistungsbilanzüberschüssen wie Deutschland sollen mehr für das Weltwirtschaftswachstum tun.
Wolfgang Schäuble wiederholt, was er zu der Forderung aus Washington immer sagt: Strukturreformen, nicht Ausgabenprogramme, seien nötig, um die globale Konjunktur wieder in Gang zu bringen.
Glaubt man drei jungen, deutschen Volkswirten, ist der Streit der Finanzminister ziemlich gestrig. Der Hamburger Ökonom Steffen Lange und seine Kollegen Peter Pütz und Thomas Kopp schreiben in einer neuen Studie , dass sich die Zeiten des Wirtschaftswachstums in den westlichen Ländern dem Ende zuneigen.
Ihr Befund klingt eher technisch, aber birgt großen wirtschaftlichen und sozialen Sprengstoff: Mindestens seit den Sechzigerjahren folge das Wirtschaftswachstum in der entwickelten Welt einem linearen Trend, sagen sie. Keinem exponentiellen, wie die meisten Volkswirte bislang annehmen.
Ein linearer Trend bedeutet, dass die Wirtschaft auf Dauer höchstens noch in absoluten Zahlen wächst. Ihre prozentualen Wachstumsraten entwickeln sich indes gegen null.
Ein Beispiel: Wenn das Bruttosozialprodukt eines Landes 10 Milliarden Euro beträgt und um eine Milliarde Euro wächst, dann entspricht das einer Steigerung von zehn Prozent. Wenn das BIP aber 1000 Milliarden Euro beträgt, dann müsste die Wirtschaft schon um 100 Milliarden Euro wachsen, um ein Wachstum von zehn Prozent zu schaffen. Wächst das BIP wie vorher um eine Milliarde Euro, entspricht das nur noch einer Steigerung von 0,1 Prozent.
Die Wirtschaft wäre dann sozusagen ausgewachsen.
Die alten Zeiten kehren nicht mehr zurück
Lange und seine Kollegen werfen anderen Ökonomen vor, seit Jahrzehnten mit falschen Modellen zu rechnen. Von der Hand zu weisen ist ihr Befund nicht: Die Periode zweistelliger Wachstumsraten endete in Westeuropa und den USA vor Jahrzehnten, Japans Wirtschaft stagniert sogar seit mehr als zwanzig Jahren.
Sollten die Ökonomen recht haben, hätte das für Staat und Sozialsysteme einschneidende Folgen: Die Planung von Bundeshaushalt oder Rentenkasse geht von einem Wachstum irgendwo zwischen ein und zwei Prozent pro Jahr aus.
Volkswirt Lange sieht die westlichen Gesellschaften deshalb vor "radikalen Veränderungen". Wenn die Wirtschaft auf Dauer nicht mehr wächst, kann nur noch das Bestehende verteilt werden: Steigende Gewinne gehen auf Kosten der Löhne oder umgekehrt. Die Staatsverschuldung wird drückender, die Sozialversicherung wäre in ihrer jetzigen Form rasch überlastet, die Hoffnung auf Vollbeschäftigung durch Millionen neue Jobs schwindet.
Dass das Wachstum schwächer geworden ist, wissen auch traditionell denkende Ökonomen. Nur: In ihren exponentiellen Wachstumsmodellen gilt Nullwachstum als zeitweise Abweichung vom weiterhin positiven Trend. Die neue Forschung legt einen anderen Schluss nahe: Die alten Zeiten kehren nicht mehr zurück.
Die These, dass der Wirtschaft das Wachstum ausgeht, hat prominente Vertreter: Laut dem einflussreichen Harvard-Ökonom Larry Summers drohen den USA und Europa die "säkulare Stagnation", ein Stillstand aus Mangel an attraktiven Investitionsmöglichkeiten. Sein Chicagoer Kollege Robert Gordon warnt in einem neuen Buch gar, in den alternden Gesellschaften des Westens könnte der technologische Fortschritt weitgehend zum Erliegen kommen.
Das hätte massive Folgen für alle Bürger: Dass Normalverdiener heute länger und besser leben als Könige vor 200 Jahren, ist auch eine Folge einer langen Phase ungekannten Wirtschaftswachstums seit der industriellen Revolution. In den Jahrhunderten zuvor stagnierte der materielle Wohlstand der meisten Menschen fast völlig.
Die Wirtschaft "unabhängiger vom Wachstum gestalten"
Wird Nullwachstum das neue, alte Normal, könnten neue Technologien wie selbstfahrende Autos, immer schnelleres Internet oder neue, teure Krebstherapien für die breite Bevölkerung womöglich auf Dauer unbezahlbar bleiben.
Doch Lange kann einer Postwachstumsökonomie viel Gutes abgewinnen. Eine immer höhere Produktion schade der Umwelt. "Wir müssen die Wirtschaft unabhängiger vom Wachstum gestalten", sagt der Ökonom, der im wissenschaftlichen Beirat der globalisierungskritischen Organisation Attac sitzt. Abwegig ist der Gedanke nicht: Unser Streben nach immer größerem Wohlstand ruiniert Ackerflächen, Flüsse und das Weltklima.
Außerdem, sagt Lange, würden mit der trügerischen Hoffnung auf einen immer größeren Kuchen Verteilungskonflikte übertüncht. In einer Wirtschaft ohne Wachstum könnten die endlich angegangen werden, mit höheren Steuern auf Vermögen und Erbschaften. "Einem Arbeitnehmer muss dann bewusst sein: Wenn er weiter wachsende Kapitaleinkommen toleriert, geht das auf seine Kosten."
Auch Guido Baldi, Konjunkturexperte am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), hält eine säkulare Stagnation für möglich. Der Schweizer stellt sich aber gegen den Wachstumspessimismus seiner Zunftkollegen. Er zweifelt, dass die Daten der Vergangenheit viel über die Zukunft aussagen: "Selbstfahrende Autos oder Roboter in der Industrie könnten das Wachstum wieder antreiben."
Für erstrebenswert hält Baldi ewige Stagnation sowieso nicht: Neue Technologien ermöglichten es der Industrie, ökologischer zu produzieren, Armut könne ein Staat mit einer florierenden Wirtschaft leichter bekämpfen.
Durch Investitionen in Bildung und Infrastruktur, glaubt Baldi, könne man die Wirtschaft wieder aus ihrem Wachstumstief befördern. Auch Lange hält das Magerwachstum nicht für gottgegeben. Er hält die steigende Ungleichheit und Monopole in der Wirtschaft für die größten Hemmnisse. Würde man sie beseitigen, wäre eine Rückkehr zum höheren Wachstum möglich.
Die Gesellschaft muss sich wohl entscheiden, ob sie das will.
Zusammengefasst: Ein Team deutscher Ökonomen glaubt, dass ihre Zunft bisher mit falschen Modellen an das Phänomen Wirtschaftswachstum herangeht. Sie glauben, dass die Wirtschaft in westlichen Staaten viel langsamer wachsen wird als bisher angenommen und fordern radikale Anpassungen durch die Politik. Andere Ökonomen sagen, die aktuelle Wachstumsschwäche könne durch Zukunftsinvestitionen überwunden werden.