Wirtschaftsnobelpreis für Armutsforscher Radikale Realisten

Der Wirtschaftsnobelpreis ging meist an Schöpfer komplexer Theorien. Nun werden Verfechter einer extremen Methode geehrt: Im Kampf gegen die Armut setzen sie auf Experimente in Entwicklungsländern. Funktioniert das?
Nobelpreisträger Abhijit Banerjee, Esther Duflo und Michael Kremer (v.l.): "Experimenteller Ansatz zur Linderung von Armut"

Nobelpreisträger Abhijit Banerjee, Esther Duflo und Michael Kremer (v.l.): "Experimenteller Ansatz zur Linderung von Armut"

Foto: imago images/Hindustan Times ; EPA/J.L. CEREIJIDO/DPA ; HARVARD UNIVERSITY/JON CHASE

Sie sind ein ungewöhnliches Paar: Esther Duflo, 46, ist in Frankreich aufgewachsen, die Mutter Ärztin, der Vater Professor für Mathematik. Abhijit Banerjee, 58, hingegen wurde 7000 Kilometer weiter östlich und eine ganze Welt entfernt, an der Grenze zu einem Slum im indischen Kalkutta geboren. Trotz der unterschiedlichen Herkunft treibt beide die gleiche Frage um: Warum schaffen nicht mehr Menschen den Sprung aus der Armut, allen Anstrengungen zum Trotz?

Duflo und Banerjee arbeiten an der US-Elite-Universität MIT, seit 2015 sind sie auch verheiratet. Sie sind das erste Ehepaar, dass mit dem Alfred Nobel Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wurde. Als Dritter im Bunde geehrt wurde der US-amerikanische Entwicklungsökonom Michael Kremer, 54, ein Kollege aus Harvard.

Die Entscheidung für das Trio ist eine gewisse Zäsur: Die höchste Ehrung für Wirtschaftswissenschaftler war in den vergangenen Jahren regelmäßig Herren meist älteren Semesters verliehen worden - für in der Regel Jahrzehnte zurückliegende Grundlagenarbeiten.

Das ist in diesem Jahr anders, Duflo und Banerjees Buch "Poor Economics" ist 2011 erschienen - das ist praktisch gestern in der Welt der Wirtschaftsforschung. Sie haben auch keine Theoriegebäude an ihren Schreibtischen ersonnen, stattdessen hat das Nobelpreiskomitee sie ausdrücklich ausgezeichnet für ihren "experimentellen Ansatz zur Linderung von Armut".

Die Preisträger sind die bekanntesten Vertreter einer neuen Schule in der Entwicklungsökonomie. Das von ihnen gegründete Poverty Action Lab hat inzwischen 120 Forscher aus aller Herren Länder zusammengebracht. Sie untersuchen, warum Mittel der klassischen Entwicklungshilfe - Schulen bauen, Mikrokredite vergeben, Familien besser informieren - oft frustrierend wenig bewirken.

Eine Portion Linsen gegen Impfmuffel

Welche Maßnahmen funktionieren - und welche nicht? Um das herauszufinden, nehmen sie einen Faktor in den Blick, den die traditionelle Wirtschaftsforschung über Jahrzehnte recht stiefmütterlich behandelt hat: das reale Verhalten des Menschen, seine kleinen und größeren Schwächen.

Und sie setzen auf Experimente, wie sie sonst eher aus dem Bereich der Pharmaindustrie bekannt sind. Randomized controlled trials (RCTs) heißt dieses Format: Dabei werden Arme etwa in Indien oder Nigeria zufällig in zwei Gruppen aufgeteilt: Die eine bekommt eine bestimmte Hilfe, die andere nicht. Das bietet entscheidende Vorteile gegenüber traditionellen Beobachtungsstudien. Bei denen können Wissenschaftler sonst lediglich reale Prozesse protokollieren - und müssen dann mühsam darauf schließen, welcher Faktor genau zu welcher Folge führte.

RCTs hingegen geben Wissenschaftlern die Möglichkeit, Studien passgenau auf eine Fragestellung hin maßzuschneidern. Sie können so testen, ob ihre Hypothesen zutreffen. Dieses Vorgehen liefert teils bemerkenswerte Ergebnisse: So erreichen Schulen in Afrika bessere Lernergebnisse, die Schüler nicht nach Alter in Klassen einteilen, sondern nach dem Wissensstand.

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Wirtschaftsnobelpreisträger: Männer, Männer, eine Frau

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Im indischen Bundesstaat Rajasthan wiederum stieg die Impfrate von 6 auf 38 Prozent bei Kindern. Der Grund war einfach: Nach dem Arztbesuch bekam jede Mutter eine Essensration Linsen geschenkt. Eigentlich steht deren Preis von 50 Cent in keinem Verhältnis zum Nutzen, den ein Kind durch eine Impfung hat. Doch so ticken viele Menschen nun einmal. Der handfeste Vorteil jetzt ist oft wichtiger, als das abstrakte Gute in ferner Zukunft. Praktischer Nebeneffekt: Die Linsen sind viel günstiger, als aufwendige Informations- und Aufklärungsprogramme über die Vorteile des Impfens.

Auf der Suche nach dem Klumpen Wahrheit

Duflo hat auch das Verhalten von Kleinbauern in Kenia untersucht. Viele von ihnen gerieten oft in Not, weil es ihnen schwerfiel, Hilfen für den Kauf von Dünger nicht anzutasten bis zur Aussaat im nächsten Jahr. Sobald sie allerdings Hilfen direkt in der Form von Düngerrationen bekamen, hatten sie viel weniger Probleme damit. "Randomized controlled trials eröffnen dir die Chance, überrascht zu werden", sagt Esther Duflo.

Der britische "Economist" hat es so formuliert: Die neue Herangehensweise "siebt Klumpen von Wahrheit aus dem Schlamm vermeintlicher Wahrheiten und Wunschdenken, die die Debatte über Entwicklungshilfe charakterisieren".

Sie wolle sicherstellen, dass "der Kampf gegen die Armut auf Basis wissenschaftlicher Belege geführt wird", sagt Duflo. Es sei bis heute so, dass "die Armen reduziert werden zu einer Karikatur ihrer selbst". Selbst diejenigen, die ihnen helfen wollten, hätten keine Vorstellung "von den tiefen Wurzeln dessen, was sie arm macht". Mit diesem Ansatz sei es dem Trio gelungen, die Entwicklungsökonomik "vollständig neu zu gestalten", lobt das Nobelpreiskomitee.

Das Vorgehen ist unter Forschern nicht unumstritten. Einige Kritiker stören sich an der Herangehensweise der "randomized controlled trials", die Experimente degradierten Bedürftige zu Versuchskaninchen.

Kritik vom Vorgänger

Den britisch-amerikanischen Ökonomen Angus Deaton - 2015 selbst mit dem Nobelpreis für seine Armutsforschung ausgezeichnet - stört etwas anderes. Er hat sich einen akademischen Schlagabtausch mit Banerjee geliefert. Deaton warnt vor einer "Sakralisierung" der RCTs, obwohl die Stichproben oft zu klein seien für verlässliche wissenschaftliche Aussagen. Man müsse der Methode "den Heiligenschein nehmen" und sie als "ein menschliches Ding ansehen, mit all ihren Fehlern".

Nobelpreisträgerin Duflo hingegen hofft, dass ihre Methode auch auf anderen Feldern Schule machen könnte - weit über die traditionelle Entwicklungsforschung hinaus. Sie würde sie gern anwenden, um die Wurzeln der populistischen Welle im Westen zu ergründen. In den reichen Ländern seien "viele Menschen tief besorgt über ihre Position in der Welt, sie meinen, ihre Würde verloren zu haben und nicht mehr den Platz zu haben, den sie zu verdienen glauben", hat sie nach Bekanntgabe der Auszeichnung gesagt.

Man müsse herausfinden, was "die Quellen dieses Problems" sind - und was sich dagegen tun lasse.

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