Trotz Sanktionen und Ölpreisschock "Russlands Finanzen sind in sehr guter Verfassung"

Seit dem Abschuss von Flug MH17 sind EU-Sanktionen gegen Russland in Kraft. Der Ökonom Chris Weafer erklärt, wie Moskau trotzdem einem Wirtschaftskollaps entging.
Moskauer Geschäftsdistrikt "Moscow City"

Moskauer Geschäftsdistrikt "Moscow City"

Foto: Alexander Zemlianichenko/ AP

Flug MH17 änderte alles. Am 17. Juli 2014 traf eine Luftabwehrrakete des Typs Buk eine malaysische Passagiermaschine über Donezk, alle 298 Menschen an Bord starben. Die Europäische Union fuhr daraufhin einen neuen Kurs: Brüssel, lange zögerlich trotz schwerer Kampfhandlungen in der Ostukraine, verhängte Wirtschaftssanktionen gegen Russland.

Die ersten Strafen traten am 1. August 2014 in Kraft und wurden danach sukzessive ausgeweitet: Dazu gehören ein Waffenembargo sowie Verbote für den Verkauf ziviler Technologien an Russland, die auch militärisch genutzt werden könnten. Technologie zur Erschließung neuer Ölquellen gehört ebenso dazu. Und: Zahlreichen russischen Staatskonzernen - darunter viele Staatsbanken - wird der Zugang zu internationalen Kreditmärkten verwehrt.

Die ökonomischen Folgen der Sanktionen sind schwer zu fassen. Sie fielen zusammen mit Umwälzungen an den internationalen Energiemärkten: Der Preis für Öl - Russlands wichtigstes Exportgut - stürzte seit Ende 2014 dramatisch ab.

Russland rutschte in eine zwei Jahre dauernde Rezession. Doch seit Jahresbeginn ist die Stimmung in Moskau gelöster: Die Wirtschaft wächst wieder leicht. Die Prognosen für das Jahr 2017 liegen bei einem Plus zwischen 0,7 bis 1,5 Prozent.

Im Interview erklärt der Russland-Kenner Chris Weafer, warum das Land den Doppelschock aus Ölpreisabsturz und Sanktionen besser verkraftet als erwartet - und dennoch darauf angewiesen ist, dass Präsident Wladimir Putin endlich die Macht der großen Staatskonzerne beschneidet.

SPIEGEL: Warum ist der von manchen Experten im Westen erwartete Kollaps Russlands ausgeblieben?

Weafer: Es gab 2014 tatsächlich die verbreitete Auffassung, die Wirtschaft könnte um zehn Prozent schrumpfen, 2015 werde Russland dann das Geld ausgehen. Das ist nicht passiert. Der Hauptgrund ist der flexible Rubelkurs. Die russische Zentralbank hat die Währung nicht künstlich gestützt, als sie wegen des Ölpreisverfalls unter Druck geriet - anders als viele andere ölproduzierende Länder, die heute viel größere Probleme haben.

Zur Person
Foto: Getty Images for The New York Times

Chris Weafer, geboren in Irland, ist einer der angesehensten Kenner der russischen Wirtschaft. Weafer arbeitet seit mehr als 19 Jahren in Russland. Er war Chefstratege der staatlichen Sberbank, der Alfa Bank und der Uralsib Financial Group. Seit 2013 arbeitet Weafer als selbständiger Berater in Moskau.

SPIEGEL: Wie wirkt sich der schwache Rubelkurs aus?

Weafer: Teure Importe aus dem Ausland sind drastisch zurückgegangen, davon profitieren einheimische Firmen. Russlands Wirtschaft ist heute sehr konkurrenzfähig. Die Löhne sind gefallen, die Steuern niedrig. Russland ist für manche Produzenten heute günstiger als China. Zugleich ist auch das Staatsbudget stabil geblieben, weil der Ölpreis in Dollar zwar gesunken ist, zugleich aber jeder Dollar mehr Rubel erlöste. Damit konnte die Regierung Renten und Staatsausgaben weiter bestreiten.

SPIEGEL: Wie steht es um Russlands Finanzen?

Weafer: Sie sind in sehr guter Verfassung. Die Staatsverschuldung liegt noch immer weit unter den Werten der meisten westlichen Staaten. Russlands Schuldenstaat beläuft sich auf deutlich weniger als 20 Prozent der Wirtschaftskraft. Die Reserven der Zentralbank sind inzwischen wieder von 350 auf 400 Milliarden Dollar gestiegen. Die zwischenzeitliche Kapitalflucht ist vorbei.

SPIEGEL: Was sind die Gründe?

Weafer: Putin hat die umsichtige Position des Finanzministeriums in Sachen Schulden in den vergangenen 15 Jahren unterstützt. Der Präsident findet: Dem Ausland viel zu schulden, unterminiere die nationale Sicherheit. Der Kreml ist bei den Staatsausgaben in der Krise diszipliniert geblieben, obwohl das Parlament Geld wollte, um das Wachstum anzukurbeln. Arbeitslosigkeit war ebenfalls kein großes Problem: Die meisten verlorenen Jobs entfallen auf das Heer der Gastarbeiter aus Zentralasien.

SPIEGEL: Die Reallöhne der Bürger sind fast 30 Monate in Folge gesunken. Führt das zu Unmut?

Weafer: Die Botschaft der russischen Massenmedien in den vergangenen Jahren war: Russland sei Ziel einer Wirtschaftsattacke von Seiten des Westens. Die Leute machen eher die USA oder die EU für die Probleme verantwortlich als den Kreml. Die Unterstützung für die Regierung bleibt hoch.

SPIEGEL: Nimmt das Wachstum weiter Fahrt auf?

Weafer: Es ist unwahrscheinlich, dass die Wirtschaft viel stärker wachsen wird. 2017/2018 werden es maximal 1,5 Prozent sein, 2019 und 2020 vielleicht 2,0 bis 2,5 Prozent. Mehr ist mit der heutigen Wirtschaftsstruktur Russlands nicht drin.

SPIEGEL: Was meinen Sie?

Weafer: Die Regierung will eigentlich ein Wachstum von vier Prozent. Um das zu erreichen, bräuchte Russland einen steten starken Fluss an ausländischen Direktinvestitionen. Dafür müssten die Investoren allerdings überzeugt werden, die Regierung sei "dieses Mal" aber wirklich entschlossen, Investitionsbedingungen und Geschäftsklima zu verbessern.

Fotostrecke

Wladimir Putin: Eine Bilanz in neun Grafiken

Foto: SPIEGEL ONLINE

SPIEGEL: Was hemmt die Entwicklung der russischen Ökonomie?

Weafer: Die mangelnde Diversifikation tritt offen zutage. Russland hat sich als extrem abhängig vom Ölpreis erwiesen. Das Land hängt zudem massiv ab von ausländischem Kapital. Gleichzeitig sind geschätzte 750 Milliarden Dollar russisches Geld im Ausland angelegt. Russische Investoren haben zu wenig Vertrauen in ihr eigenes Land und seine wirtschaftliche Zukunft. Das Segment kleiner und mittlerer Unternehmen ist mit 20 Prozent viel zu klein, der Sektor der Staatskonzerne dominiert mit 65 Prozent. Das heißt: Der innovative Teil der Wirtschaft hat zu wenig Gewicht. Es müsste genau andersherum sein.

SPIEGEL: Russland diskutiert seit Putins Amtsantritt im Jahr 2000 über grundlegende Strukturreformen.

Weafer: Es scheint, dieses Mal haben mehr höhere Beamte die Notwendigkeit echten Wandels verstanden als früher. Ohne ihn wird die Wirtschaft nahe der Stagnation verharren, es könnte eine öffentliche Gegenreaktion geben und politische Konsequenzen. Es ist offensichtlich geworden, dass auch hohe Ölpreise nicht mehr zu Erfolgen führen. Selbst 2013, mit einem Ölpreis von 110 Dollar, lag das Wirtschaftswachstum lediglich bei 1,3 Prozent.

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SPIEGEL: Ex-Finanzminister Alexej Kudrin hat Präsident Putin seine Reformagenda "Strategie 2035" vorgestellt (mehr zum Thema: Reformpläne für Putin - Duell um Russlands Zukunft). Bringt sie - anders als die Vorgängerpläne - endlich den Durchbruch?

Weafer: Ich bin seit 19 Jahren in Russland. Ich habe den starken Eindruck gewonnen, Land und Regierung beginnen erst dann mit den richtigen Maßnahmen, wenn sie absolut keine andere Wahl mehr haben oder die Konsequenzen des Nichtstuns noch schlimmer sind. Ich denke, Putin ist heute an diesem Punkt.

SPIEGEL: Inwiefern?

Weafer: Er will als Mann in die Geschichte eingehen, der sein Land in viel besserem Zustand hinterlässt, als er es vorgefunden hat. Heute ist Russlands Position in der Welt stärker, es sitzt wieder am Tisch der Weltpolitik. Die Wirtschaft aber - obwohl in besserem Zustand als in den chaotischen Neunzigerjahren - bleibt schwach. Umfragen deuten darauf hin, dass der Frust der Menschen darüber wächst. Wenn Putin sich jetzt nicht auf die Wirtschaft konzentriert, wird er in der nächsten Amtszeit die öffentliche Unterstützung verlieren.

SPIEGEL: Hat China von der Krise zwischen Russland und dem Westen profitiert?

Weafer: Russland hat versucht, sich ab 2014 China zu öffnen. Politiker propagierten den Schwenk nach Asien, um den Westen als wichtigsten Partner zu ersetzen. China hat das nicht so erwidert, wie erhofft. Der Chef der staatlichen Sberbank hat nach einer Peking-Reise im Dezember 2014 gesagt: "Wir standen in einer langen Reihe von Leuten, die Geld wollten, und niemand hat uns nach vorne gerufen."

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