Wohlstand und Umverteilung Das Ungleichheitsrätsel

Auf den ersten Blick will es einfach nicht zusammenpassen. In den USA trat ein Kandidat zur Präsidentschaftswahl an, der massive Steuersenkungen für Reiche versprach - und erhielt damit auch viele Stimmen von Wählern im unteren Einkommensspektrum. Und in Europa wenden diese sich derzeit in vielen Ländern neu-rechten und autoritären Kräften zu.
Das bringt eine alte Frage zurück: Warum geben die Benachteiligten den Populisten ihre Stimme - und nicht denen, die sich ausdrücklich dem Kampf gegen die Ungleichheit verschrieben haben? Warum unterstützen Menschen eine Politik, die ihren wirtschaftlichen Interessen zu widersprechen scheint?
Eine Vergleichsstudie des Soziologen Renzo Carriero von der Universität Turin (hier das italienische Original) wirft nun ein neues Licht auf diese Frage. Der italienische Wissenschaftler analysierte Daten zur Einstellung gegenüber Umverteilung aus 44 europäischen Ländern. Die Befragten sollten angeben, ob ihrer Meinung nach Einkommensunterschiede eher eingeebnet werden sollten - etwa durch höhere Steuern für Reiche oder Transferzahlungen an Ärmere. Oder ob sie sich größere Unterschiede in den Verdiensten wünschten.
Auf den ersten Blick ist das Ergebnis nicht weiter verblüffend. Auf den zweiten schon.
Carrieros erste Erkenntnis: Wer oben in der gesellschaftlichen Rangordnung steht, ist eher gegen mehr Umverteilung - diese Personen hätten dabei ja etwas zu verlieren. Wer von Umverteilung profitieren würde, ist hingegen eher dafür.
So weit, so nachvollziehbar.
Erstaunlich ist, dass dieses Muster nicht in allen Ländern gleich stark ausfällt - sondern auf bemerkenswerte Weise variiert.
Wo die Einkommen von Reich und Arm besonders weit auseinander sind, liegen ihre Gerechtigkeitsvorstellungen überraschenderweise näher beieinander. Die Arbeiter denken dort eher wie die Reichen - und lehnen Umverteilung ab. Je größer die Ungleichheit, desto seltener wünschen sich die Arbeiterklassen Umverteilung.
Ein Widerspruch?
Der Soziologe Stefan Liebig von der Uni Bielefeld hält das Ergebnis seines italienischen Kollegen nur auf den ersten Blick für paradox. "Menschen sind nicht grundsätzlich für Gleichheit", sagt er. "Sie akzeptieren Ungleichheit, wenn sie sie als gerecht beurteilen."
Kann Ungleichheit fair sein?
Die Frage ist: Welche Ungleichheiten werden als gerecht angesehen - und welche nicht? Liebig hat das zusammen mit zwei Kollegen in einer kürzlich veröffentlichten Untersuchung am deutschen Beispiel ermittelt. Die Forscher werteten dazu Daten aus, bei denen die Befragten neben ihrem tatsächlichen Einkommen auch den Verdienst angeben sollten, den sie für gerecht hielten. Die Abweichungen zwischen beiden Summen waren minimal. Eine Gerechtigkeitslücke? Zumindest finden die Deutschen sie nicht auf dem eigenen Gehaltszettel. Meistens jedenfalls.
Interessant ist, wo das tatsächliche Einkommen vom als gerecht angesehenen Lohn abweicht: Die Kluft verläuft dabei weniger zwischen höher und niedriger qualifizierten Arbeitnehmern. Wer einen niedrigeren Schulabschluss hat, hält es offenbar auch für akzeptabel, weniger zu verdienen. Über ungerechtfertigte Lohnabschläge klagen eher Leiharbeiter, die allein durch ihren Arbeitsvertrag schlechter gestellt sind als festangestellte Kollegen. Menschen, die in kleinen Betrieben arbeiten, sehen sich eher benachteiligt als Kollegen in gut zahlenden Großkonzernen.
Allgemein stellten die Forscher fest: Wo Ungleichheit auf Leistung und Bildung - also auf im weitesten Sinne individuelle Faktoren - zurückzuführen ist, wird sie von vielen als gerechtfertigt empfunden. Wo sie den Umständen geschuldet ist, erscheint sie als unfair.
Einstellungen kommen nicht aus dem Nichts
Warum ist der Wunsch nach Umverteilung ausgerechnet in Ländern so gering, wo die Ungleichheit besonders groß ist? Eine Erklärung könnte also lauten: Vielleicht sind die Unterschiede im Einkommen hier auf Gründe zurückzuführen, die als gerecht empfunden werden. Vielleicht wurden in diesen Ländern etwa die Bildungssysteme ausgebaut - was dazu geführt haben mag, dass es viele gut verdienende Akademiker gibt, denen man ihren Einkommensvorsprung allgemein gönnt. Vielleicht ist Ungleichheit kein Problem, sondern weitgehend sogar gewollt.
Also alles gut?
Einerseits sollte sich eine Verteilungspolitik natürlich an dem messen, was als gerecht empfunden wird. Andererseits aber kommen Einstellungen nicht aus dem Nichts.
Karl Marx unterstellte der Arbeiterklasse einst ein "falsches Bewusstsein", das sie am Aufbegehren hindert. Ein Begriff, vor dem Gerechtigkeitsforscher Liebig ausdrücklich warnt, weil er als Freibrief zur Entmündigung verstanden werden kann, an den andere aber durchaus anknüpfen.
Der ehemalige Weltbank-Ökonom Branko Milanovic schreibt in seinem aktuellen Buch "Die ungleiche Welt" etwa: "Ich meine mit falschem Bewusstsein, dass die Mittelschicht und die Armen mehr oder weniger bewusst von ihren eigentlichen wirtschaftlichen Interessen abgelenkt und dazu verleitet werden, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen, insbesondere mit sozialen und religiösen Fragen, die häufig Uneinigkeit stiften."

Bettler in New York (im Juni 2016): "Gib mir einen Dollar oder ich stimme für Trump"
Foto: Christina Horsten/ dpaEs ist keine Verschwörung, nichts Gesteuertes, was zu dieser Ablenkung führt, schreibt er, es ist eher ein stillschweigender Konsens, der sich nach und nach in Politik und Medien bildet, und der am Ende den Umverteilungsgegnern zupass kommt. Eine Spitze gegen die Debatte um die Identitätspolitik, die nach dem Trump-Sieg auch in deutschen Feuilletons gerade heftig tobt: Sorgt sich die Linke zu sehr um Minderheitenrechte statt um die eigentliche soziale Frage, zu sehr um Homo-Ehe und Frauenquote statt um Mindestlohn und Arbeitslosengeld?
Eine Frage des Glaubens
Der Soziologe Carriero weist in seiner Studie darauf hin, dass Ungleichheit schon durch ihre schiere Größe als legitim angesehen werden kann; die normative Macht des Faktischen verschafft ihr Akzeptanz. Man gewöhnt sich an die große Kluft zwischen Arm und Reich. Man verliert den Glauben an ihre Veränderbarkeit. Und richtet - mit Blick auf die neuen Autoritären - vielleicht gerade deswegen eine Wahlentscheidung nicht mehr unbedingt an ihr aus.
Oder aber man sucht nach Erklärungen, um besser mit der Kluft leben zu können, gerade wenn man auf der weniger begünstigten Seite steht. Carriero verweist auf andere Forschungsergebnisse, die zeigen: Wo die Ungleichheit besonders groß ist, scheint auch der Glaube sehr verbreitet zu sein, es mit eigener Leistung nach oben schaffen zu können. Wenn die Ärmeren sich als die Millionäre von morgen sehen, verkneifen sie sich lieber die gleichmacherischen Impulse. Höhere Steuern für die Reichen zu fordern käme in einer solchen Kultur dem Eingeständnis eigenen Scheiterns gleich.
Ob dieser Glaube berechtigt ist, steht auf einem ganz anderen Blatt: Manche Ökonomen weisen daraufhin, dass die Aufstiegschancen in ungleichen Ländern nicht etwa größer, sondern sogar geringer sind .
Wo der Graben besonders tief ist, ist es auch besonders schwer, ihn zu überwinden. Ökonom Milanovic sieht im Aufstiegsglauben denn auch eher eine nützliche Lüge: "Ein wichtiger Bestandteil des falschen Bewusstseins ist ein übertriebener Glaube an die soziale Aufwärtsmobilität", schreibt er. Gerade Menschen mit geringen Einkommen überschätzten die Möglichkeit, es nach oben zu schaffen.
Die Einstellungen der Bevölkerung zur Umverteilung hängen am Ende damit zusammen, wie in Politik und Medien über sie diskutiert wird, glaubt Studienautor Carriero: Wie wird über Ungleichheit gesprochen? Gilt sie als legitim oder als problematisch? Oder wird sie komplett ausgeblendet? "So etwas hat einen substanziellen Einfluss darauf, wie Umverteilung von den Bürgern wahrgenommen wird", vermutet Carriero. "Trump, aber auch Berlusconi in Italien haben Unternehmen immer als diejenigen dargestellt, die zum Wohle aller Jobs und Wohlstand schaffen. Wie dieser Wohlstand verteilt werden soll, haben sie kaum erwähnt."