
Höhere Zinsen Jetzt kommt die Zeit der engen Gürtel


Londoner Finanzdistrikt: Von den Märkten abgestraft
Foto: Reinhard Krause/ REUTERSDie Europäische Zentralbank (EZB) wird kommenden Donnerstag die Zinsen anheben, mutmaßlich wieder um einen Dreiviertelprozentpunkt. So viel ist klar: Es ist nur ein Zwischenschritt hin zu noch weit höheren Sätzen. Dabei kann eine Menge schiefgehen. Mit Verwerfungen ist zu rechnen.
Die Inflationsrate im Euroraum lag zuletzt bei zehn Prozent. Rechnet man Energie und Nahrungsmittel heraus, steigen die Verbraucherpreise um knapp fünf Prozent . Nach wie vor ist zu viel Geld in der Wirtschaft. Der Weg ist vorgezeichnet: Auf absehbare Zeit wird die Geldversorgung knapp und knapper werden. Nach vier Jahrzehnten, binnen derer die Zinsen im Trend immer weiter sanken, und einem Jahrzehnt, als sie sogar unter der Inflationsrate lagen, wird es wieder straffer zugehen. Inzwischen ist es kein abwegiges Szenario mehr, dass die Leitzinsen im Laufe des kommenden Jahres auf fünf Prozent oder höher steigen.
Die wirklich spannende Frage bei der EZB-Ratssitzung wird denn auch sein, wann die Notenbank beginnt, ihre billionenschweren Wertpapierbestände abzubauen, die sie seit der Eurokrise aufgekauft hat. Die US-Notenbank stößt bereits Anleihen ab und entzieht den Finanzmärkten auf diese Weise flüssige Mittel (»Quantitative Tightening«). Die Bank of England wollte eigentlich auch längst damit beginnen. Dann aber wurde sie vorerst von der Realität gestoppt.
Die britische Finanzkrise zeigt, was alles schiefgehen kann auf dem Weg zu einer strafferen Geldpolitik. Es ist nicht nur der desolate Zustand der konservativen Partei, der das Land an den Rand des finanziellen Abgrunds geführt hat. Noch vor einem Jahr wäre der populistische wirtschaftspolitische Kurs von Noch-Premierministerin Liz Truss wohl ohne größere Blessuren durchgegangen. Inzwischen aber haben sich die makroökonomischen Bedingungen so weit verschoben, dass eine Regierung, die gleichzeitig große Ausgabenprogramme und Steuersenkungen verkündet und damit die Staatsschulden weiter erhöht, von den Märkten abgestraft wird. Der Finanzminister wurde ausgetauscht, eine wirtschaftspolitische Kurswende verkündet, die Regierungschefin aus dem Amt gedrängt. (Achten Sie in dieser Woche auf das Gerangel um ihre Nachfolge. Es ist sogar möglich, dass Brexit-Bullshitter Boris Johnson zurück ins Amt kommt.)
Die Bedeutung dieser Vorgänge reicht weit über die britischen Inseln hinaus. Immerhin handelt es sich bei Großbritannien nicht um ein drittklassiges Schwellenland, sondern um eine der größten Volkswirtschaften der Welt, die einen der wichtigsten Finanzplätze beheimatet. Wenn Großbritannien ins Wanken gerät, wackeln auch anderswo die Fundamente der finanziellen Stabilität.
Chronische Doppeldefizite
Dabei ist England nicht mal das Land mit den höchsten Staatsschulden. Italiens Verbindlichkeiten liegen deutlich höher, Japans ohnehin. Was Großbritanniens Schwäche ausmacht, ist die strukturelle Abhängigkeit von Kapitalimporten. Seit Jahrzehnten war das Land erfolgreich darin, Anleger aus aller Welt davon zu überzeugen, ihr Geld auf die Insel zu tragen. Das außenwirtschaftliche Defizit Großbritanniens wird sich dieses Jahr auf mehr als acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) belaufen, wie die OECD prognostiziert. Ein Land, das derart vom guten Glauben ausländischer Anleger abhängig ist, kann es sich nicht leisten, deren Vertrauen zu enttäuschen .
Was sich geändert hat, ist die Rolle der Notenbanken. Bis vor Kurzem konnten sie den Markt für staatliche Schuldscheine nach Belieben steuern und flüssig halten. Jetzt, da sie versuchen, Liquidität abzupumpen, um die Inflation in den Griff zu bekommen, geht das nicht mehr. Sie stecken in einem Zielkonflikt. So sah sich die Bank of England in den vergangenen Wochen zu einer zeitweisen Kursumkehr gezwungen und kaufte abermals in großem Stil Staatsanleihen auf, um den Zusammenbruch von Rentenfonds zu verhindern, die sich mit Zinswetten verzockt hatten. Aber damit soll nun wieder Schluss sein. Die Pfund-Hüter müssen auf den Pfad steigender Zinsen und schrumpfender Notenbankbilanzen zurückkehren. Andernfalls läuft die Inflation noch weiter aus dem Ruder. Das Resultat wäre eine Währungskrise.
Alle müssen sich den Notenbanken unterordnen
Wir erleben derzeit eine fundamental neue Rollenverteilung in der makroökonomischen Politik. Bislang musste sich die Geldpolitik der Finanzpolitik unterordnen; die Inflation war niedrig, die Notenbanken halfen den Finanzministern bei der Haushaltsfinanzierung, indem sie die Zinsen niedrig hielten und einen Großteil der Neuverschuldung direkt vom Markt kauften (»Quantitative Easing«). Jetzt hat die Inflationsbekämpfung oberste Priorität. Das heißt: Die Finanzpolitik muss sich der Geldpolitik unterordnen, wie der Internationale Währungsfonds (IWF) bei seiner Herbsttagung kürzlich klargestellt hat.
Die Bedeutung dieser Neuverteilung der Rollen ist kaum zu überschätzen. Betroffen sind vor allem Länder mit chronischen Doppeldefiziten in der Leistungsbilanz und im Staatshaushalt. Davon gibt es einige, auch abseits der britischen Inseln, darunter Ungarn, Chile, Neuseeland – und die USA. Amerika mag ein Sonderfall sein, da der Dollar immer noch die dominierende Weltwährung und der Kapitalmarkt der größte auf dem Globus ist. Aber die neuen Spielregeln der Makropolitik werden die Frage aufwerfen, ob das Land auch bei hohen Zinsen noch unbegrenzte Kreditwürdigkeit genießt. Schließlich fährt Washington seit Anfang der Achtzigerjahre ununterbrochen stattliche Leistungsbilanzdefizite ein und hat inzwischen Staatsschulden von mehr als 120 Prozent des BIP auf der Uhr. (Donnerstag gibt es auf neue Wachstumszahlen aus Washington.)
Doch bevor Amerika Zahlungsprobleme bekommt, sind noch einige andere Länder dran. Staatsschulden von 110 Prozent sind inzwischen die Norm unter den hoch entwickelten Volkswirtschaften, wie der IWF in seinem neuen »Fiscal Monitor« vorrechnet . Was bei niedrigen Zinsen und offensiv agierenden Notenbanken kein Problem war, wird nun zur Bürde. Jetzt kommt die Zeit der engen Gürtel. Und das wird kein Spaß.
Jenseits der Moral
Die Zeit der Finanzpolitik der ungedeckten Versprechen geht zu Ende. Das kann man gut finden oder schlecht. Mir geht es hier nicht um ein moralisches Urteil, sondern um das schlichte Herausarbeiten von Notwendigkeiten. Und die sind ebenso simpel wie tragisch: Länder, die die neuen Spielregeln ignorieren, laufen Gefahr, in den Strudel einer Vertrauenskrise gesogen zu werden.
Daraus ergeben sich vier Schlussfolgerungen:
Höhere Ausgaben sind nur noch bezahlbar, wenn sie mit gleichzeitigen Einsparungen an anderer Stelle einhergehen – oder mit höheren Steuern. Es gelten wieder harte Budgetrestriktionen. Daraus folgt: Verteilungskonflikte können nicht mehr mit Defizitpolitik zugekleistert werden, sondern treten offen zutage. Das ist einerseits nicht ungefährlich für den Zusammenhalt von westlichen Gesellschaften, andererseits aber vielleicht auch heilsam, weil der Populismus zurückgedrängt wird – siehe das rasche Ende des britischen Duo Infernale.
Man kann über Austeritätspolitik schimpfen, so viel man will: Wer Schulden macht, begibt sich in die Hand seiner Gläubiger. Das heißt: Die disziplinierende Wirkung der Märkte nimmt zu. Auch die Eurozone wird diesen Effekt zu spüren bekommen, wo höhere Zinsaufschläge nicht nur für Italien, sondern auch für Frankreich (sowie Spanien und Portugal) unangenehm werden dürften. Um unter diesen Bedingungen den Binnenmarkt und die Währungsunion zusammenzuhalten, ist der Ausbau des EU-Budgets umso dringlicher. Das aber sollte aus eigenen EU-Steuern finanziert werden, über die ein reformiertes Europäisches Parlament entscheidet und wacht, nicht über gemeinsame Schulden, die die Staats- und Regierungschefs mal eben so beschließen, wie das beim Corona-Rettungsfonds (»NextGenerationEU«) der Fall war.
Der Staat muss klare Prioritäten setzen und ansonsten den Privatsektor zur tätigen Mitwirkung verpflichten. Das gilt auch für Deutschland. So sind schrittweise Erhöhungen des Renteneintrittsalters finanzpolitisch unabweisbar. Denn dass jährlich mehr als 100 Milliarden Euro – und steigend! – aus Steuergeldern als Bundeszuschuss in die Rentenversicherung fließen, während arbeitsfähige Rentner bei niedrigen Bezügen zu Hause sitzen und gleichzeitig Unternehmen händeringend Mitarbeiter suchen, ist weder effizient noch gerecht noch finanzpolitisch nachhaltig. Übrigens: Wenn der Staat kein Geld mehr hat für notwendige und wünschenswerte Sozialleistungen, könnten künftig Unternehmen dazu verpflichtet werden, diese Leistungen aus eigenen Mitteln für ihre Mitarbeiter zu erbringen. In Zeiten knapper Arbeitskräfte kann es durchaus im Interesse von Unternehmen sein, wenn sie auf diese Weise in die Lage versetzt werden, leichter Mitarbeiter zu halten.
Keine Inflation ist auch keine Lösung. Der IWF hat vorgerechnet, dass die Schuldenquoten tatsächlich derzeit ziemlich deutlich sinken. Bei steigendem Preisniveau sinkt der reale Wert der Verbindlichkeiten. Die Inflationsüberraschung funktioniert aber nur für Staatsschulden mit langer Laufzeit und festen Zinsen – und bei geringer Neuverschuldung (siehe 1.), da nun deutliche Zinsaufschläge fällig werden. Mit der Rückführung der Inflationsraten könnten sich die Notenbanken deshalb einige Jahre Zeit lassen, um die Rekordschulden ein Stück weit abzuschmelzen.
Die wichtigsten Wirtschaftstermine der bevorstehenden Woche
Berlin – Nach dem Krieg – Deutsch-Ukrainisches Wirtschaftsforum »Rebuild Ukraine« auf Initiative des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft sowie der Deutsch-Ukrainischen Industrie- und Handelskammer (AHK Ukraine), mit Scholz, Premier Schmyhal, Habeck, Schulze.
Liverpool/London – Autumn of discontent – Geplanter Streik von Hafenarbeitern (bis 07. November!). Parallel dazu streiken in London Beschäftigte auf Fähren. Es geht, klar, um Kompensation für davoneilende Lebenshaltungskosten.
Berichtssaison I – Geschäftszahlen von Philips.