Zuwanderung Südeuropas Leid, Deutschlands Freud

Krisengewinnler Deutschland: Die Massenarbeitslosigkeit in Südeuropa treibt tausende hochqualifizierte Arbeitskräfte in die Bundesrepublik. Selbst die, die kein Wort Deutsch sprechen, sind bei den Unternehmen willkommen.
Mitarbeiter bei Ziehl-Abegg lernt eine Elektroingenieurin an

Mitarbeiter bei Ziehl-Abegg lernt eine Elektroingenieurin an

Foto: Ziehl-Abegg / Achim Köpf

Hamburg - Inzwischen lernen die Portugiesen in Künzelsau sogar Kegeln. "Die Leute werden hier sofort an die Hand genommen. Unsere Mitarbeiter nehmen die Neuen zum Fußballspielen oder auf die Kegelbahn mit", sagt Rainer Grill vom schwäbischen Unternehmen Ziehl-Abegg. Zwei Ingenieure aus Portugal hat der Mitteständler in diesem Jahr bereits eingestellt, bald fängt ein dritter an. Für das Unternehmen ist das hervorragend: "Wir brauchen spezialisierte Maschinenbau-Ingenieure und haben ständig offene Stellen", sagt Grill.

So absurd es klingen mag: Die Euro-Krise hilft Unternehmen wie Ziehl-Abegg. Denn der Bewerberstrom aus Südeuropa wird in den nächsten Monaten kaum abreißen: Im ersten Halbjahr 2012 kamen netto rund 182.000 Zuwanderer nach Deutschland, 35 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Die Zahl der Portugiesen und Spanier stieg gegenüber 2011 um mehr als die Hälfte, die Zahl der griechischen Zuwanderer steig um 78 Prozent. In der Krise gilt Deutschland als letzte Zuflucht vor der Massenarbeitslosigkeit und der tiefen Rezession in ihren Heimatländern.

"Für Deutschland ist das großartig", sagt Herbert Brücker, Migrationsexperte am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. 50 bis 70 Prozent der Zuwanderer seien Hochschulabsolventen, viele davon aus den gefragten naturwissenschaftlichen und technischen Fächern. Aber auch Pflegekräfte und Krankenschwestern würden schnell Arbeit finden. Das gelte für Südeuropäer genauso wie für Ungarn, deren Zahl seit 2011 auch rapide angestiegen ist. Und weil etwa mit jedem neuen Ingenieur meist auch mehrere Fach- oder Hilfsarbeiter angestellt werden, sei der Gesamteffekt auf den deutschen Arbeitsmarkt mehr als positiv.

Wie groß das Interesse potentieller Arbeitskräfte ist, zeigen nicht nur die neuesten Zahlen der Statistiker: Nachdem ein Fernsehteam des portugiesischen Senders TV-1 über den Fachkräftemangel bei Ziehl-Abegg berichtet hatte, brach eine Flut von Bewerbungen über die Personalabteilung des Unternehmens, das in Künzelsau 800 Mitarbeiter hat, herein: Rund 1500 Mappen mit englischen Anschreiben, portugiesischen Zeugnissen und Projektbeschreibungen mussten die Personaler auswerten. "Das hat uns Monate beschäftigt", sagt Sprecher Grill.

"Die Leute müssen sich bei uns wohlfühlen"

Auch nachdem der Mittelständler die richtigen Bewerber gefunden hatte, machten die einige Mühe: "Unsere Portugiesen konnten zunächst kein Wort Deutsch", erzählt Grill. Deshalb gehe eine Mitarbeiterin aus der Personalabteilung mit den Ingenieuren aus Südeuropa nun aufs Einwohnermeldeamt oder helfe dabei, ein Auto zu kaufen. Auch mietet der Betrieb ein Apartmenthaus, in dem die neuen Fachkräfte nach ihrer Ankunft unterkommen. "Die müssen ja erst mal sehen, welche Mietwohnung sie sich hier leisten können. Aber auf Dauer sollen sie sich natürlich selbst zurechtfinden", meint Grill. Er glaubt aber, dass sich der Aufwand auszahlt: "Die Leute müssen sich bei uns wohlfühlen. Sonst haben wir die Kosten der Eingewöhnung und sie sind sie sofort weg, wenn ein anderer 500 Euro mehr bietet."

Was bei Ziehl-Abegg klappt, funktioniert auch in Stuttgart: Mit der "Aktion Nikolaus" lud die regionale Wirtschaftsförderung am 6. Dezember 2011 genau 100 spanische Ingenieure auf eine Fachmesse für mittelständische Industriebetriebe. "Inzwischen haben 22 der Spanier in kleinen und mittleren Betrieben in der Region Stuttgart Arbeit gefunden, elf weitere anderswo in Deutschland. Das war ein Riesenerfolg", sagt Walter Rogg von der Wirtschaftsförderung Stuttgart. Die eigentlich einmalige Aktion will Rogg nun dauerhaft anbieten: Die spanischen Fachkräfte sollen nach vier Wochen Sprachkurs ein Praktikum in der Industrie machen. Und danach im Idealfall dort bleiben.

Im Gesamtjahr 2012 könnte die Nettozuwanderung nach Deutschland laut IAB-Experte Brücker deutlich über 300.000 liegen. Das habe Deutschland auch bitter nötig: "Der demografische Wandel wird uns in 10 bis 15 Jahren voll treffen. Bis dahin müssen wir unser Erwerbspersonenpotential entwickeln", sagt Brücker. Ob der Zustrom aus dem Süden aber noch lange anhält, hält der Ökonom aber für sehr fraglich: "Wir haben eine einmalige Situation. Fast überall in Europa ist Krise, nur in Deutschland nicht. Das bleibt nicht für immer so."

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