Zweiklassenmedizin Ärzte diskriminieren Kassenpatienten systematisch

Gesetzlich Versicherte warten 71 Tage auf einen Termin beim Facharzt, Privatpatienten 19: Eine Studie zeigt nach SPIEGEL-Informationen, wie Mediziner Kassenpatienten systematisch benachteiligen. Aus Sicht der Ärzte ist das durchaus sinnvoll - so verdienen sie mehr Geld.
Radiologe (Archivbild): Massive Kritik von den Krankenkassen

Radiologe (Archivbild): Massive Kritik von den Krankenkassen

Foto: ? Jean-Paul Pelissier / Reuters/ REUTERS

Hamburg - Gesetzlich Versicherte müssen auf Termine beim Facharzt deutlich länger warten als Privatpatienten. Das hat eine Umfrage der AOK Rheinland/Hamburg in ihrer Region ergeben. Die AOK hatte im Juni mehr als 800-mal testweise in Praxen angerufen. Dabei gaben sich die Mitarbeiter bei einem ersten Anruf als gesetzlich Versicherte aus. Später riefen sie als vermeintliche Privatpatienten an. Dabei fragten sie nach einem normalen Untersuchungstermin. Einen Notfall gaben sie nicht an.

Die Ergebnisse sind eindeutig - und zeigen, was die alltägliche Erfahrung ohnehin nahelegt: Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen müssen deutlich mehr Geduld beweisen, bis sie einen Termin beim Facharzt bekommen. Am schwierigsten ist es demnach, zu einem Kardiologen durchzudringen. Dort müssen Kassenpatienten im Schnitt rund 71 Tage warten, Privatpatienten 19. Bei den Radiologen sind es für gesetzlich Versicherte 46 Tage, für Privatpatienten sieben. Die Augenärzte vergeben nach 37 Tagen Termine an ihre Kassenpatienten, an die private Kundschaft nach 16.

"Das Verhalten mancher Fachärzte ist äußerst ärgerlich", sagt Wilfried Jacobs, Chef der AOK Rheinland/Hamburg. Daran werde sich jedoch nichts ändern, solange es keine wirkungsvollen Sanktionsmöglichkeiten gebe. "Die Kassen sollten das Recht bekommen, nicht mehr mit Fachärzten zusammenarbeiten zu müssen, die gesetzlich Versicherten keine zeitnahen Termine geben", sagt Jacobs.

Bereits im April hatte der SPIEGEL berichtet, einer Umfrage des Wissenschaftlichen Instituts der AOK zufolge müssten 25 Prozent der gesetzlich Versicherten mindestens zwei Wochen lang auf einen Termin beim Arzt warten. Bei Privatversicherten mit akuten Beschwerden traf dies der Umfrage zufolge nur für knapp acht Prozent der Patienten zu.

Privatpatienten sind für Ärzte lukrativer

Die schlechtere Versorgung der Kassenpatienten hat nichts damit zu tun, dass es zu wenig Ärzte gibt. In Deutschland sind genügend Mediziner vorhanden - abgesehen von wenigen Gebieten in Ostdeutschland. Generell kann von Ärztemangel jedenfalls keine Rede sein. Denn insgesamt ist die Zahl der Kassenärzte in den vergangenen 20 Jahren kontinuierlich gestiegen, um 40 Prozent auf mehr als 137.000.

Dass Kassenpatienten größere Probleme haben, einen Facharzttermin zu bekommen, hängt mit dem Gesundheitssystem zusammen. Während die meisten Kassenleistungen streng reglementiert sind, können die Mediziner mit individuellen Zusatzangeboten sowie beim Behandeln von Privatpatienten ordentlich Geld verdienen. Für Privatpatienten können sie oft mehr als doppelt so hohe Rechnungen stellen wie bei Mitgliedern von gesetzlichen Krankenkassen. Die Folge: weniger ärztliche Dienstleistungen für gesetzlich Versicherte, mehr Engagement für Privatpatienten.

Schätzungen zufolge erwirtschaften viele Ärzte 30 Prozent ihres Einkommens allein mit Privatpatienten - und das, obwohl sich nur zehn Prozent der Deutschen zu dieser privilegierten Gruppe zählen. Bei manch einem niedergelassenen Mediziner in Ballungsgebieten sind es gar 50 Prozent der Umsätze.

ulz
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