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STEUERN Spiel mit Kurven

Die Bonner Regierungsparteien übertreffen sich gegenseitig mit neuen Steuersenkungsplänen. *
aus DER SPIEGEL 47/1985

Die Freidemokraten, keck wie zu sozialliberalen Zeiten, waren so richtig stolz. Im Präsidium beglückwünschten sich am Montag vergangener Woche Wirtschaftsminister Martin Bangemann und sein Vorgänger Otto Graf Lambsdorff gegenseitig. Als erste, so sehen es die beiden, war die FDP mit schönen Steuersenkungsplänen für die 90er Jahre auf dem Markt gewesen.

Wenige Tage vor der FDP-Sitzung hatte der bayrische Finanzminister Max Streibl Vorschläge unterbreitet, die den freidemokratischen Geschenkideen verblüffend ähnlich sind.

Der Beistand aus Bayern war den FDP-Präsiden zwar genehm. Man müsse jetzt nur darauf achten, so Bangemann, daß in der Öffentlichkeit die Liberalen als Erfinder der Idee in Erinnerung blieben. Schließlich will der kleine Bonner Koalitionspartner im Wahlkampf als Steuersenkungspartei auftrumpfen.

Die Wachsamkeit der Liberalen ist angebracht, denn Finanzminister Gerhard Stoltenberg will das wählerwirksame Steuerthema nicht dem Fünf-Prozent-Partner überlassen. Er feilt an einer »Supersteuerreform« (Stoltenberg) herum, die seinen Namen tragen soll.

Als Stoltenberg kürzlich öffentlich andeutete, wie er sich seine Reform vorstellt, beschuldigten ihn die Freidemokraten sogleich, bei ihnen abgekupfert zu haben. Todernst verwahrte sich der Finanzminister in einem zwei Seiten langen Brief an Bangemann gegen solche Anwürfe.

Die Freidemokraten sind sicher, einen uneinholbaren Vorsprung zu haben, ganz egal, was die anderen nachschieben. Nur vorsichtshalber ließ Bangemann nach der Präsidiumssitzung am Montag von seinem FDP-Sprecher Lothar Mahling das Erstgeburtsrecht noch einmal notifizieren. Bereits am 22. Juli hätten Vorstand und Präsidium das Steuerkonzept der Freidemokraten verabschiedet. Generalsekretär Helmut Haussmann über das merkwürdige Bonner Wettrennen: »Das ist wie im Märchen vom Hasen und dem Igel: Wir sind immer schon da.«

Der Streit der Koalitionsparteien um die schönste Steuerutopie fürs nächste Jahrzehnt war so nicht geplant. Eigentlich wollten sich die Regierenden in Bonn im Wahlkampfjahr 1986 mit jener Reform brüsten, die erst im Juni das Parlament passiert hat.

Doch mit der »größten Steuerreform aller Zeiten« (Bundeskanzler Helmut Kohl) - sie bringt den Bürgern in zwei _(Vom Januar 1986 an werden die ) _(Bemessungsgrenzen in der ) _(Sozialversicherung erhöht, die Beiträge ) _(der Arbeitslosenversicherung werden ) _(gesenkt. Nicht berücksichtigt ist die zu ) _(erwartende ) _(Krankenkassenbeitragserhöhung. )

Stufen, 1986 und 1988, knapp 20 Milliarden Mark Entlastung - läßt sich schlecht protzen. Hamburgs Finanzsenator Horst Gobrecht, in sozialliberalen Zeiten Steuerexperte der SPD-Fraktion, erinnert sich an die letzte große Steuersenkung vor vier Jahren. Gobrecht: »Die werden ihr Aha-Erlebnis haben so wie wir damals.«

Trotz der gewaltigen Gesamtsumme bleibt beim einzelnen Steuerzahler nur wenig hängen. Die geringe Verbesserung dürfte schon 1986 durch steigende Beiträge für die soziale Sicherung angeknabbert werden (siehe Tabelle Seite 47).

Mit steigendem Einkommen wachsen immer mehr Arbeitnehmer zudem in eine höhere Progression hinein, so daß bereits nach zwei Jahren die meisten Steuerzahler nicht besser dastehen als heute. Schon 1985 werden von 100 Mark Bruttoeinkommen der Arbeitnehmer im Schnitt 21,10 Mark für Steuern einbehalten; 1988 werden es trotz der Steuererleichterungen bereits 21,40 Mark sein.

Es rächt sich, daß auch die liberal-konservative Koalition es nicht geschafft hat, den Geburtsfehler des geltenden Steuertarifs zu beheben: die falsch angelegte Progressionszone.

Die Steuerzahler sind in drei Gruppen eingeteilt. Zur untersten Gruppe zählen alle, die wenig verdienen und in der sogenannten unteren Proportionalzone mit einem gleichbleibenden Steuersatz besteuert werden. Derzeit sind das 22 Prozent bis zu einem Jahreseinkommen von 18 000 Mark für Ledige und 36 000 Mark für Verheiratete (siehe Graphik).

Danach setzt, für die Gruppe zwei, die Progression ein. Das heißt: Von jeder zusätzlich verdienten Mark wird ein bis auf 56 Prozent steigender Steuersatz erhoben.

Für die Gruppe drei gilt die sogenannte obere Proportionalzone. Die setzt nach der Tabelle bei einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 130 000/ 260 000 Mark ein, von da an bleibt der Steuersatz wiederum konstant, aber jetzt mit 56 Prozent.

Die Idee hinter diesem Tarif war, daß jeder nach seiner finanziellen Leistungsfähigkeit belastet werden soll. Zu Anfang stimmten Theorie und Wirklichkeit auch überein. Rund zwei Drittel der Steuerzahler waren unten angesiedelt, von jeder zusätzlich verdienten Mark wurde ihnen ein gleichbleibender, relativ niedriger Prozentsatz abgezogen. Nur dem oberen Drittel in der Einkommens-Hierarchie mutete der Fiskus eine progressive Besteuerung zu.

Dann stiegen die Einkommen, zum Teil inflationär aufgebläht, und die Bonner Regierungen, ob sozial- oder christdemokratisch geführt, ließen zu, daß immer mehr Bürger in die Progressionszone hineinwuchsen - in einen Steuerbereich also, der eigentlich nicht für sie gedacht war. Heute fallen zwei von drei Steuerzahlern unter die Progression.

Verschärft wurde das Problem durch den Verlauf, den der progressive Abschnitt der Tarifkurve nimmt. Die bauchige Form der Kurve bewirkt, daß ausgerechnet die Aufsteiger aus der Proportionalzone besonders schmerzhafte Steigerungsraten zu verkraften haben. Für den Fiskus hat dieser Verlauf einen bedeutsamen Vorteil: Vom Einkommenszuwachs der Masse jener, die nur mittelmäßig verdienen, kassiert er einen überdurchschnittlich großen Anteil.

Die von FDP, CDU und CSU rechtzeitig vor dem Wahlkampfjahr 1986 entwickelten Steuerpläne haben deshalb ein ehrgeiziges Ziel gemeinsam: Der Steuerbauch soll verschwinden. Die Progression soll zukünfig linear verlaufen, die Besteuerung gleichmäßig zunehmen.

Das Spiel mit Kurven und Koordinaten, so theoretisch es erscheinen mag, hat für Staat und Steuerzahler gravierende Folgen. Das Modell der FDP etwa - Grundmuster auch für Stoltenberg und Streibl - kostet den Staat nach heutiger Rechnung rund 45 Milliarden Mark im Jahr an Steuereinnahmen.

Von unten bis oben sollen nach den Vorstellungen der Liberalen alle etwas von diesem Präsent mitbekommen, einige allerdings mehr, andere weniger.

Für jedermann wird der unbesteuerte Grundfreibetrag (vom kommenden Jahr an 4 536 Mark, Verheiratete jeweils das Doppelte) auf 6 048 Mark angehoben. Für jedes Kind wollen die Planer den Bürgern statt 2 484 gleich 3 672 Mark steuerfrei lassen. Allein das kostet 14 Milliarden Mark.

Die Reform soll sich besonders für die Spitzenverdiener lohnen. Angeblich hemmt es Kraft und Einsatzwillen von Leistungsträgern wie Chefärzten oder Topmanagern, wenn ihnen ein Steuersatz von 56 Prozent zugemutet wird. Daß ein Zusammenhang zwischen Steuerlast und Leistung empirisch nicht nachzuweisen ist - »auch nicht bei den gerne als Beispiel verwendeten Freien Berufen«, wie der Finanzwissenschaftler Willi Albers

schreibt -, irritiert die christlichliberalen Steuerreformer nicht.

Für Politiker wie den FDP-Steuerexperten Hans Gattermann bleibt jeder Steuersatz über 50 Prozent »unanständig«. Der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Hansjörg Häfele, sieht sogar einen Zusammenhang zwischen Nächstenliebe und Steuersatz. Häfele: »Wer mehr als 50 Prozent Steuern bezahlt, dessen Herz droht zu erkalten - eine der unsozialen Wirkungen zu hoher Steuersätze.«

Die Pläne der Regierung sollen vor allem die Herzen aller Gutverdienenden erwärmen. Die Freidemokraten haben sogar ein Modell durchgerechnet, bei dem die Progression bei 45 Prozent endet. Die FDP kann so einen verheirateten Bürger mit einem Jahreseinkommen von 200 000 Mark mit dem Versprechen locken, daß er demnächst 22 000 Mark weniger Steuern zu zahlen hätte. Ein verheirateter Angestellter mit 50 000 Mark im Jahr würde dagegen nur 3 064 Mark Steuern sparen.

Den Vorwurf, wieder einmal FDPgemäß eine Umverteilung von unten nach oben zu betreiben, glaubt Freidemokrat Gattermann mit dem Hinweis auf Wohltaten auch für Kleinverdiener entkräften zu können. Die »soziale Komponente«, so Gattermann, schaffe den besonders Begünstigten die »nötige Gewissensruhe«. Das ist ein fragwürdiges Argument. Denn die Verbesserungen, die den Kleinverdienern zuteil werden, gewährt der Fiskus auch den Einkommensanführern, beispielsweise den höheren Grundfreibetrag. DGB-Steuerexperte Hans-Georg Wehner: »Bei denen, die ganz oben sitzen, addiert sich alles.«

Erfolg beim Publikum können die Bonner Koalitionäre mit ihren Verheißungen nur haben, wenn ihnen die Wähler abnehmen, daß die Prophezeiungen in der nächsten Legislaturperiode auch verwirklicht werden. Doch mit der Glaubwürdigkeit der Regierenden ist es nicht weit her.

Weder Stoltenberg noch Bangemann wollen vor der Wahl offenbaren, wie der Steuerausfall von 35 bis 45 Milliarden Mark - der bis 1990 noch mit 20 Prozent hochgerechnet werden muß - genau finanziert werden soll. Alle reden sie lediglich über vage Größenordnungen.

Danach soll etwa die Hälfte durch strenge Ausgabendisziplin ausgeglichen werden. Nur: Das setzt einen gleichmäßigen Wirtschaftsaufschwung bis ins nächste Jahrzehnt voraus, womit kaum zu rechnen ist.

Die zweite Hälfte soll durch das Streichen von Subventionen und Steuervergünstigungen bei den gerade beglückten Bürgern eingesammelt werden, ein Feld, auf dem die Koalition trotz großer Versprechungen bisher nichts zustande gebracht hat. Finanzminister Stoltenberg kalkuliert außerdem eine Anhebung der Mehrwertsteuer und einiger Verbrauchsteuern ein, was von der FDP, der CSU und Teilen der CDU strikt abgelehnt wird.

Man wolle nicht vorzeitig Widerstände gegen geplante Kürzungen mobilisieren, so begründen die Freidemokraten ihre Weigerung, schon jetzt zu sagen, wem sie Vergünstigungen nehmen wollen. Auch der Finanzminister spielt Verstecken. Aus Angst, irgend jemanden vor der Wahl zu erschrecken, hat er seinen Abteilungsleitern untersagt, auch nur hausintern Vorschläge für Streichungen (Ministeriumsjargon: »Giftlisten") aufzuschreiben.

Eines ist allen Beteiligten klar: Wer über 20 Milliarden Mark zusammenbekommen will, kann sich nicht mit Kleinbeträgen begnügen. Ins Visier der Streicher müssen auch jene Milliardenbeträge geraten, mit denen die Steuerlast der Arbeitnehmer-Massen gemildert wird. Dazu zählen so gewichtige Blöcke wie die Steuerfreiheit für einen Teil des Weihnachtsgeldes (4,3 Milliarden), der Arbeitnehmerfreibetrag (3,4 Milliarden) oder die Aufhebung des Essensfreibetrages von 1,50 Mark pro Tag (500 Millionen). Entfallen aber solche Vergünstigungen, dann verringert sich der Wert der Superreform für die weniger Verdienenden beachtlich.

Optimist Bangemann will dem Wähler versprechen, im Falle des Wahlsieges die Superreform in den Koalitionsverhandlungen bis ins Detail festzulegen. Bangemann: »Lieber verhandele ich einige Wochen, als daß ich mich vier Jahre lang rumstreite.«

Das könnte wirklich ein langer Streit werden: In den ersten vier Jahren gemeinsamen konservativ-liberalen Regierens sind die Subventionen trotz gegenteiliger Ankündigungen um rund fünf Milliarden Mark gestiegen.

[Grafiktext]

Am 1. Januar 1986 tritt die erste Stufe der Steuerreform in Kraft. Beispiele für die Auswirkungen: ledig, ohne Kinder monatliches Brutto-Einkommen in Mark Lohnsteuer Kirchensteuer Sozialversicherung Netto-Einkommen derzeit künftig Jan. 1986 gegenüber Dez. 1985 derzeit künftig Jan. 1986 gegenüber Dez. 1985 derzeit künftig Jan. 1986 gegenüber Dez. 1985 verheiratet, zwei Kinder; Alleinverdiener derzeit künftig Jan. 1986 gegenüber Dez. 1985 derzeit künftig Jan. 1986 gegenüber Dez. 1985 derzeit künftig Jan. 1986 gegenüber Dez. 1985 GROSSER DREH AM STEUERRAD? Vergleich der Bonner Steuertarife (Grenzbelastung) Steuerbelastung in Prozent noch geltender Tarif für 1988 beschlossener Tarif von der Regierungskoalition angestrebter Tarif ledig zu versteuerndes Einkommen in tausend Mark verheiratet

[GrafiktextEnde]

Vom Januar 1986 an werden die Bemessungsgrenzen in derSozialversicherung erhöht, die Beiträge der Arbeitslosenversicherungwerden gesenkt. Nicht berücksichtigt ist die zu erwartendeKrankenkassenbeitragserhöhung.

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