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ZEITGESCHICHTE Spur nach Auschwitz?

Schaeffler beschäftigte in der Nazi-Zeit Zwangsarbeiter, und vieles spricht dafür, dass das Unternehmen Haare von KZ-Opfern verarbeitete. Offiziell beginnt die Geschichte der Firma erst 1946.
aus DER SPIEGEL 12/2009

Es war der 13. Februar 1943, zwei Uhr nachts, als SS-Männer die Familie Stanko aus ihrer Wohnung trieben. Halina Stanko war damals 20 Jahre alt, sie erinnert sich noch heute, 66 Jahre später, an jedes Detail: wie die Deutschen ihren Vater, den Leiter einer Kohlengrube im polnischen Sosnowitz bei Kattowitz, herumkommandierten. Wie ihre Brüder, 13 und 16 Jahre alt, in ihren Schlafanzügen froren und dass ihre Mutter gerade noch ein Brot in Zeitungen wickeln und sich einen Mantel über den Pyjama werfen konnte.

Im Bahnhof des Ortes kam sie an blutverschmierten Wänden vorbei. Die Familie musste vor SS-Männern antreten, die sich an vier Tischen über Listen beugten. »Diese Selektion war mit das Schlimmste«, sagt Stanko. Von Sosnowitz fuhren auch Züge nach Auschwitz.

Nach vier Stunden Fahrt in einem überfüllten Güterwaggon landete die Familie im oberschlesischen Katscher (Kietrz). Uniformierte Trupps brachten die Menschen in eine ausgediente Fabrik mitten in der Kleinstadt. »Polenlager 92« nannten die Deutschen den strengbewachten Ort. Von September 1942 bis Kriegsende wurden dort insgesamt 1762 Polen inhaftiert. SS-Leute hatten in der Region zwischen Kattowitz und Krakau Jagd auf sie gemacht - darunter auch auf Kinder, deren Eltern in Konzentrationslager deportiert worden waren. 38 Prozent der Menschen im Lager waren unter 18 Jahren, hält eine Ortschronik von Kietrz fest.

Halina Stanko wurden zuerst die Haare abrasiert. »Es kamen Leute vom Arbeitsamt, die uns auf die Unternehmen verteilten.« Die größte Firma am Ort war eine Plüsch- und Teppichfabrik. Ihr Vater musste dort arbeiten, ihre Mutter - und ab Sommer 1944 auch sie. Den Arbeitsausweis von Halina Stanko hat ein Mann unterschrieben, den sie nie gesehen hat. Er hieß Wilhelm Schaeffler. Er war ihr Betriebsführer und Inhaber der Wilhelm Schaeffler KG, des größten Arbeitgebers vor Ort.

Im Oktober 1940 hatte Schaeffler die schlingernde Firma übernommen. Damals hieß sie noch Davistan AG. So hatte sie ihr ehemals jüdischer Besitzer genannt. Die Dresdner Bank, für die Schaeffler die Firma eigentlich geprüft hatte, bot sie ihm günstig an: Bei gut 30 Prozent unter Wert griff Schaeffler schließlich zu. Der Wirtschaftsprüfer wurde Teppichproduzent und sorgte 1942 erst mal für die Korrektur eines »Schönheitsfehlers": Er beseitigte den »Judennamen« und gründete mit seinem Bruder Georg die Wilhelm Schaeffler AG, die 1943 eine KG wurde.

Es sei wahrscheinlich, sagt der Erlanger Historiker Gregor Schöllgen, dass Wilhelm Schaeffler auch Zwangsarbeiter für seinen Betrieb angefordert habe. Schöllgen, ein Spezialist für Firmengeschichte, war Anfang 2004 von Maria-Elisabeth Schaeffler, der Witwe Georg Schaefflers, um eine Familiengeschichte gebeten worden. Die bebilderte Chronik war als Geschenk zum 40. Geburtstag ihres Sohnes gedacht. Das bereits wenige Monate später fertige Werk geriet jedoch offenbar etwas zu glatt, die Schaefflers hakten nach. »Frau Schaeffler und ihr Sohn wollten Genaueres wissen, zur Rüstungsproduktion etwa und zur Zwangsarbeit«, so Schöllgen.

Maria-Elisabeth Schaeffler hat in den vergangenen Monaten oft betont, wie umsichtig ihr Mann Georg sie ins 1946 nach Herzogenaurach verlegte Unternehmen eingeführt habe. Fragen nach früher hat sie ihm offenbar kaum gestellt, er sei schließlich Soldat gewesen und nicht operativ tätig, lässt sie über einen Sprecher wissen.

Belege für Zwangsarbeit fand zuerst auch Schöllgen nicht - er hatte allerdings für die Chronik auch nicht danach gesucht.

Der Historiker bohrte also tiefer, und das Gutachten, das er den Schaefflers 2006 übergab, sprach eine andere Sprache. Das, was ursprünglich mal als Geschenk gedacht war, wurde nun eine Last - es dokumentierte die Verstrickung des eigenen Onkels und des Vaters in den Nationalsozialismus.

Offiziell lassen die Schaefflers die Firmengeschichte noch immer 1946 beginnen. Im Magazin »Cicero« durfte Schöllgen diese Legende nun allerdings geraderücken: Schon als Chef der Davistan AG begann Wilhelm Schaeffler, der 1941 in die NSDAP eintrat, mit der Produktion von Rüstungsgütern. »Richtig los«, schreibt Schöllgen, ging es aber erst 1943, mit der neuen KG setzte Wilhelm Schaeffler auf Rüstungsprofite. Er wusste, dass seine Textilproduktion für die deutsche Kriegswirtschaft zusehends unwichtiger wurde. Zusammen mit seinem Bruder Georg buhlte er daher in der zerstörten Kugellager-Metropole Schweinfurt um Aufträge - und bot Katscher als Ausweichstandort an.

Im Sommer 1943 gingen dort erste Aufträge für Panzer-Nadellager ein. Während ein Firmensprecher die Grundlage für den Nachkriegserfolg in den Leistungen »seit 1946« sieht, ist es für Schöllgen, »das während des Krieges gewonnene Knowhow«, das Schaeffler auferstehen ließ.

Anfang der vierziger Jahre war die Firma zum Gemischtwarenladen geworden. In den drei Werken in Katscher produzierten sie Abwurfgeräte für die Luftwaffe, Nadellager für Panzer, Wehrmachtswesten, Matratzen und Mäntel.

Ohne Zwangsarbeiter ging es nicht mehr. Zusammen mit Dutzenden anderer Häftlinge und unter bewaffneter Begleitung marschierte Halina Stanko jeden Morgen vom Lager in das Werk 2. Das steht heute noch und ist von weither zu sehen. Es wirkt wie die Ruine einer untergegangenen Epoche - obwohl hier noch bis 1997 Teppiche produziert wurden.

Ganz oben unter dem Fabrikdach, im sechsten Stock, musste Halina Stanko Bombenbleche zusammenschweißen. Bis in die Nacht tränten ihre Augen. Seitdem kann sie nicht mehr gut sehen. An den Wochenenden bestellte sie der örtliche Arbeitsamtsdirektor zum privaten Arbeitseinsatz in seinen Garten. Trotz allem, so Stanko, habe sie Glück gehabt. »Als das Lager im Januar 1945 evakuiert wurde, schenkten Schaeffler-Mitarbeiter uns sogar ein paar Plüschstoffe.« Ungefähr 5000 Zloty (etwa 1300 Euro) erhielt Stanko aus dem deutschen Entschädigungsfonds, an dem sich auch Schaeffler beteiligte. Angerechnet wurde nicht einmal die ganze Lagerzeit, sondern nur die Arbeit bei Schaeffler.

Es lief nicht für alle so glimpflich wie für Halina Stanko. Allein im Jahr 1944 seien 177 Menschen im Lager gestorben, so die Ortschronik. Für die selbstverfasste Chronik hat der ehemalige Schuldirektor von Kietrz auch frühere Zwangsarbeiter des Lagers befragt. Maria Uroda etwa berichtet, wie sie schon als Elfjährige zur Arbeit gezwungen wurde - erst in einer Ziegelei ("Oft hatte ich die Hände voll Blut"), dann auf dem Friedhof. Schließlich kam sie in die Matratzenproduktion der Fabrik, offenbar zu Schaeffler. Uroda erzählt, sie sei geschlagen worden. Manchmal hätten ihr die Arbeiterinnen aber auch Essen zugesteckt.

Halina Stanko erinnert noch ein anderes Detail: Im Erdgeschoss von Werk 2 gab es einen Extraeingang, der deutschen Arbeitern vorbehalten war. Dort ging es zur Teppich- und zur Garnproduktion. »Wir haben damals gehört, dass dort Menschenhaar verarbeitet worden ist.«

Als dieser Verdacht nun vor einigen Wochen im Internet kursierte, entschloss Schöllgen sich gegenzusteuern. In »Cicero« und gegenüber SPIEGEL TV betonte Schöllgen, er habe keine Hinweise gefunden, die eine Verbindung von Menschenhaar aus Auschwitz und Schaeffler zuließen. Auf Nachfrage sagte Schöllgen: »Es gibt keine Veröffentlichung in Polen, die sich auf die Firma Schaeffler bezieht.« Hier irrt der Historiker wohl. Sein polnischer Kollege Andrzej Strzelecki vom Auschwitz-Museum arbeitete vor einigen Jahren an diesem Thema. In dem Band »Auschwitz 1940 - 1945« beschrieb er bereits 1999, dass in Auschwitz gesammeltes Haar an die »Teppichfabrik G. Schoeffler AG« in Katscher geliefert wurde. Die Schreibfehler kann Strzelecki erklären: »Wir hatten die polnische Nachfolgefirma von Schaeffler angeschrieben, und die hatten uns als Namen 'Schoeffler' genannt.« Es gebe keinen Zweifel, dass Schaeffler gemeint sei, »eine ähnliche Firma gab es in Katscher nicht«.

Doch es gibt noch weitere Hinweise: Vor der Staatsanwaltschaft in Gliwice sagten im Mai 1946 zwei Deutsche aus, die in der Fabrik beschäftigt waren. Im Jahr 1943, berichtet Heinrich Linkwitz, Technischer Leiter in der Plüsch- und Teppichfabrik, seien

zwei Waggons mit Menschenhaaren angekommen, mit jeweils 1,5 Tonnen. Die Haare seien zu Garn verarbeitet worden und befänden sich teilweise noch immer im Saal der Krempel-Maschinen.

Die Haare, so Strzelecki, seien damals gerichtsmedizinisch untersucht worden. Dabei seien Spuren von Zyanwasserstoff gefunden worden, Hauptbestandteil des Giftgases Zyklon B.

Gregor Schöllgen ist ein wenig vorsichtiger geworden. »Wir wollen Schaeffler nicht exkulpieren«, sagt er. Von den gesichteten Quellen habe jedoch »keine einzige Spur nach Auschwitz geführt«. Strzeleckis Veröffentlichung habe er, so Schöllgen, bis vor wenigen Wochen nicht gekannt - aber er hat sich inzwischen mit den polnischen Kollegen getroffen. »Nach deren Erkenntnissen gibt es eine Spur nach Katscher, und es spricht einiges dafür, dass sie zur Schaeffler-Fabrik führt.« Direkte Belege, darauf beharrt Schöllgen dennoch, stünden noch aus.

Gegenüber der Fabrik wohnt Wanda Pisarewicz. Ihr Schwiegervater leitete die Fabrik nach dem Krieg. Damals fand er in einem Magazin im sechsten Stock Ballen mit Menschenhaar - und informierte die polnischen Behörden. »Das war im Jahr 1946«, so Pisarewicz.

Er verstehe nur nicht, so Schöllgen, warum die Polen Wilhelm Schaeffler dies nicht 1949 zum Vorwurf machten. Schaeffler saß damals im Gefängnis in Bialystok und Warschau. Es ging nicht um Katscher, sondern seine Rolle in Bialystok, wo er im Auftrag der Nazis polnische Textilbetriebe liquidiert und unter deutsche Kontrolle gebracht haben soll. Wilhelm Schaeffler wurde in der Revision als »zweitrangige Person« eingestuft und 1951 entlassen.

Im Werk in Herzogenaurach richtete er mit seinem Bruder später einen »Katscher-Raum« ein, mit Ansichten der Fabrik in Oberschlesien.

Eine kleine Idylle. NILS KLAWITTER

* Maria-Elisabeth Schaeffler mit Sohn Georg (M.); Firmengründer Wilhelm (l.), Georg Schaeffler (r.).

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