Zur Ausgabe
Artikel 32 / 123

Steuern Streichen ohne System

Konkrete Pläne für die angekündigte Steuerreform gibt es noch nicht, doch schon wird sie von allen Seiten zerredet, die Interessenvertreter spielen die Reformer gegeneinander aus. Daß es tatsächlich zu einem radikalen Umbau des Steuersystems mit niedrigen, einfachen Tarifen kommt, wird immer unwahrscheinlicher.
aus DER SPIEGEL 35/1996

Die Mitglieder der von Finanzminister Theo Waigel eingesetzten Steuerkommission wissen, was auf sie zukommt: Eine radikale Renovierung der chaotischen Einkommensteuer wird nur gegen den erbitterten Widerstand mächtiger Interessengruppen durchzusetzen sein.

Doch Ende Juli faßten die Politiker und Experten in geheimer Sitzung Mut. Fest wollten sie zusammenhalten, nichts von ihren Beratungen sollte nach außen dringen.

Vor allem aber, das versprachen sich der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Wolfgang Schäuble, sein FDP-Kollege Otto Hermann Solms sowie die anderen Mitglieder der Kommission fest in die Hand, werde man stur am Reformplan festhalten.

Zuerst, da waren sich alle einig, müsse ein neues Steuerrecht her - ohne Geschenke, von Sonderabschreibungen und Ausnahmeparagraphen entschlackt. Dann erst werde man darüber reden, wie diese bei vielen Gruppen eingesammelten Mehreinnahmen über einen niedrigeren, einfacheren Steuertarif an alle Bürger zurückgegeben werden sollten.

Am Mittwoch dieser Woche trifft sich die Kommission wieder. Seither hat sich die Diskussion verselbständigt - in Bonn herrscht Steuerchaos.

Der Bundeskanzler selbst lenkte die Debatte von seinem Urlaubsort am Wolfgangsee entschlossen in die falsche Richtung. Eine höhere Mehrwertsteuer im Jahre 1999 sei unerläßlich, verkündete er. Der Glaube, die Koalition meine es ernst mit dem Versuch einer echten Reform, wurde so schon vor Beginn der Kämpfe schwer erschüttert.

Auch das Schweigegelöbnis der Waigel-Kommission erwies sich rasch als brüchig. Kommissionäre beteiligten sich an der öffentlichen Debatte, ohne Rücksicht auf die intern vereinbarten Festlegungen.

Schäuble etwa verkündete am 5. August, eine steuerliche Entlastung unterer Einkommensgruppen sei nicht geplant, die hätten bei der Anhebung des Existenzminimums bereits 1996 ihr Teil abbekommen. Am 22. August sah er das schon wieder anders. Da wollte er den Eingangssteuersatz von 25,9 auf 20 Prozent senken, eine Wohltat gerade auch für Kleinverdiener.

Widersprüche überall: Schäuble wird nicht müde, die Erwartungen an die Reform zu dämpfen. Für echte Steuersenkungen fehle zur Zeit der finanzielle Spielraum. Im wesentlichen könne mit niedrigeren Steuersätzen nur das zurückgegeben werden, was an anderer Stelle, bei Steuervergünstigungen und, wenn es denn sein müsse, über eine höhere Mehrwertsteuer eingesammelt werde.

Die FDP und auch Kohls Kanzleramtsminister halten dagegen. Friedrich Bohl: »Ziel der Koalition ist eine deutliche Entlastung des Steuerzahlers.«

Kommissionsmitglied Erwin Huber, Finanzminister in Bayern, mochte sich mit den mühsamen Beratungen in der Waigel-Gruppe nicht begnügen. Er legte einen Huber-Plan vor: Eingangssteuersatz 20 Prozent, Höchststeuersatz 40 Prozent, zahlbar ab 300 000 Mark Jahreseinkommen für Ehepaare. Huber nannte auch eine ganze Reihe von Steuervergünstigungen, die er abschaffen will, um die Tarifsenkung für alle bezahlen zu können.

Prügel handelte sich der Bayer für die Idee ein, die gegenüber anderen Kapitalerträgen privilegierte Behandlung der Zinsen von Lebensversicherungen zu beseitigen. Dabei paßt der Plan ins öffentlich propagierte Konzept der Koalition, nicht von vornherein Schutzzäune um einzelne Besitzstände zu ziehen.

Wie ernst das gemeint ist, führte FDP-Generalsekretär Guido Westerwelle exemplarisch vor. Am Montag der vergangenen Woche verkündete er, die FDP werde keine Tabus beim Abbau von Vergünstigungen dulden. Am Dienstag stellte er die privilegierten Lebensversicherungen unter Naturschutz.

Doch auch Hubers Vorstoß weckt den Verdacht, nicht Mut zur Reform, sondern die Absicherung eigener Interessen habe die Auswahl der opferfähigen Vergünstigungen bestimmt. Die vom Fiskus weitgehend verschonten Bauern kommen in seinem Streichkatalog nicht vor, die bayerischen Vereine brauchen um ihre Steuerpfründen nicht zu fürchten. Und es wird nicht einmal gefragt, ob die Kirchensteuer für alle Zeiten die Einkommensteuerlast der Gläubigen mindern muß.

Mehrwertsteuerdebatte, Tarifspiele und das vorzeitige Festlegen einzelner auf die Abschaffung ausgewählter Steuergeschenke bestimmen die Diskussion. Das erlaubt den Betroffenen, die Steuerreformer gegeneinander auszuspielen. Die beabsichtigte Erneuerung des Einkommensteuerrechts, so der Kölner Steuerrechtler Joachim Lang, verkomme so wieder zum systemlosen Streichen einiger »Singularitäten« zwecks Finanzierung einer Tarifsenkung.

Das aber ändere am ungerechten, verkorksten Einkommensteuerrecht kaum etwas. Durch die vielen Schlupflöcher und Sonderregelungen sei die Einkommensteuer zur »Dummensteuer« geworden. Das Prinzip einer Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit bestehe nur noch zum Schein, Wohlhabende könnten der Besteuerung weitgehend entkommen.

Lang hält eine Änderung des geltenden Gesetzestextes für fruchtlos, er fordert ein völlig neues Gesetz. Der Kölner Professor: »Die heute noch Begünstigten dürfen die gestrichenen Paragraphen gar nicht mehr finden.«

Dieser radikale Ansatz müßte, politischen Mut und politische Kraft vorausgesetzt, keine Träumerei bleiben. In einem Aufsatz in der Frankfurter Allgemeinen rechnete der rheinland-pfälzische Finanzstaatssekretär Thilo Sarrazin (SPD) vor, daß andere Länder mit wesentlich niedrigeren Steuersätzen gemessen am Bruttoinlandsprodukt ebenso hohe Staatseinnahmen erwirtschaften wie die Bundesrepublik mit hohen.

Sarrazin schlägt ein System mit einem steuerfreien Existenzminimum von 15 000 Mark (heute 12 096), einem Eingangssteuersatz von 20 Prozent (heute 25,9) und einem Höchststeuersatz von 40 Prozent (heute 53) vor. Um das zu finanzieren, müßten 462 Milliarden Mark Einkommen, die heute als Freibeträge, Abschreibungen oder Vergünstigungen überhaupt nicht besteuert werden, künftig vom Fiskus erfaßt werden. Das soll Mehreinnahmen von 150 Milliarden Mark bringen.

Diese »radikale Neubestimmung der Bemessungsgrundlage« (Sarrazin) hat es in sich. Die neuen Tarife sind für den SPD-Fraktionsvorsitzenden Scharping akzeptabel. Doch die Streichliste der Vergünstigungen wird in der SPD, wie in jedem anderen Lager, auf verbissene Gegner stoßen.

Der politische Ansatz des eigenwilligen und eigenständigen Mainzer SPD-Staatssekretärs ist zwar bei den Fachleuten weitgehend unumstritten. Teile seines Streichkataloges halten indes einer Überprüfung nicht stand. »Denn«, so der Präsident des Bundesfinanzhofes, Klaus Offerhaus, »der Teufel steckt im Detail.« (siehe SPIEGEL-Gespräch)

Die Abschaffung der Steuervorteile von Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit oder die Besteuerung der jetzt steuerfreien Veräußerungsgewinne von Mietshäusern oder Aktien machen die meisten Wissenschaftler mit. Anders sieht es beispielsweise bei Sarrazins Verbot aus, »negative Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung« mit dem normalen Einkommen etwa eines Architekten steuermindernd zu verrechnen. Das allein soll 15,6 Milliarden Mark Mehreinnahmen bringen.

Von Scheinverlusten durch den Bau und Erwerb von Immobilien profitieren überproportional gutverdienende Freiberufler. Die Immobilienbesitzer können in aller Regel dauerhaft mehr Kosten als Einnahmen geltend machen. Der Frankfurter Finanzwissenschaftler Bernd Spahn hat ermittelt, ein Verzicht auf die Besteuerung von Mieten wäre für den Fiskus paradoxerweise ein glänzendes Geschäft, weil dann auch die Kosten nicht geltend gemacht werden könnten.

In der Öffentlichkeit, so Spahn, würde ein solcher Verzicht als Begünstigung der Vermieter angesehen. In Wahrheit aber würden die Steuereinnahmen aus der Einkommensteuer um zehn Prozent, also etwa 30 Milliarden Mark, steigen.

Dennoch verwirft der Kölner Steuerwissenschaftler Lang Sarrazins Ansatz. Der einheitliche Einkommensbegriff dürfe nicht aufgegeben werden. Das sei ein Rückfall in die mittelalterliche Schedulensteuer, die verschiedene Einkunftsarten unterschiedlich behandelt habe, mit dem verfassungsrechtlich verankerten Prinzip einer Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit habe das nichts mehr zu tun. Dem Problem der negativen Einkünfte beim Bau, so die Experten, müsse man durch Streichen der hohen Abschreibungsmöglichkeiten und durch die Besteuerung der Veräußerungserlöse beikommen.

In der Waigel-Kommission haben die Koalitionäre sich ohnehin bescheidene, aber immer noch achtbare Ziele gesetzt. Etwa 80 Milliarden Mark wollen sie sich einen niedrigeren und einfacheren Tarif kosten lassen. Würde diese Summe ganz durch das Streichen von Ausnahmen und Vergünstigungen zustande gebracht, wäre das eine spürbare Verbesserung.

Doch soweit ist es noch lange nicht. Die heftige Reaktion auf den Plan, die Lebensversicherungen wie andere Kapitalanlagen zu behandeln, war nur ein Vorspiel für den zu erwartenden Aufstand gegen das Einsammeln von 80 Milliarden Mark.

Deswegen erscheint eine höhere Mehrwertsteuer so verlockend. Jeder Prozentpunkt bringt 15 Milliarden Mark.

[Grafiktext]

Zusätzliche Steuereinnahmen durch Abschaffung von Steuerprivilegien

[GrafiktextEnde]

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 32 / 123
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren