Streik im Güterverkehr "Der Bahnhof läuft voll"

Die Lokführer bestreiken den Güterverkehr, die erste Welle erfasst die Hauptverkehrsadern der deutschen Wirtschaft. Stefan Schultz besuchte Europas größten Hafenbahnhof - und sah, wie sich die Industrie gegen den erwarteten Güterstau rüstet.

Hamburg - Nasswarm weht der Wind über die Schienen, ein Mann in einer orangen Weste hebt die Hand. Kesselwaggons, Getreidewagen, Rückenlader mit Containern stehen auf den Gleisen. Weichen schnappen hin und her, dirigieren die Wagons auf eines der 32 Abstellgleise. Eine Lok hält an, die Bremsen quietschen, der Dieselmotor schnauft. Die Frage, die sich hier alle stellen, ist, wann der Zug wieder losfährt.

Wenn der Hafen Hamburgs Tor zur Welt ist, ist der Bahnhof Alte Süderelbe sein Drehkreuz. Es ist der größte Seehafenbahnhof Europas. Rund 200 Züge, jeder davon bis zu 700 Meter lang, laufen hier täglich ein. 44 nationale und internationale Eisenbahnverkehrsunternehmen beförderten von Januar bis Juni 19,7 Millionen Tonnen Güter durch den Hamburger Hafen.

Derzeit dreht sich das Drehkreuz Hamburgs langsamer. Wie langsam, wagt niemand zu sagen. Sicher weiß man nur, dass hier rund 75 Prozent der Gütertransporte über Railion Deutschland laufen, das Logistik-Unternehmen der Deutschen Bahn. Und dass von den rund 5400 Railion-Lokführern etwa ein Drittel bei der GDL ist - und damit im Streik.

Im fünften Stock des Bahnhofs-Towers befindet sich die Schaltzentrale des Gleisverkehrs. Durch das Panoramafenster überblickt man die gesamte Gleisanlage. Christiane Kuhrt von der Hamburg Port Authority steht davor, trinkt Kaffee und gibt sich gelassen. "Bislang ist die Arbeit nicht viel stressiger als sonst", sagt sie. "Nur sind eben weniger Loks im Einsatz, wir müssen also sparsamer rangieren." Dennoch: Der Strom der Güter lasse sich noch gut händeln - bis jetzt.

Im Büro klingeln unablässig die Telefone, auf übereinander gestapelten Monitoren signalisieren grüne, rote und gelbe Linien den aktuellen Betrieb, dazwischen sitzen Männer, drücken auf Tasten, plärren Anweisungen durch Fernsprechanlagen hinaus auf die verregneten Gleise. "Normale Arbeitsatmosphäre", sagt Kuhrt, "das geht hier immer so."

Doch die alltägliche Hektik dürfte sich bald steigern: Im Laufe des Abends werden immer mehr Zugführer ihre Loks in Bahnhöfen stehen lassen. Da die meisten Güterzüge nachts durch die Republik rollen, dürfte sich die Lage bis morgen verschlimmern. Die Gleise drohen, sich immer mehr mit Zügen zu füllen, die nicht wieder abfahren. Kuhrt: "Wenn zu viel ankommt, das nicht wieder abfährt, läuft der Bahnhof sozusagen voll."

Die Ausweichmöglichkeiten für den Güterverkehr, schätzt Kuhrt, sind begrenzt: "Die nicht streikenden Bahnfirmen sind ohnehin ausgelastet und haben kaum Kapazitäten, Fuhren zu übernehmen." Auch auf die Straße lassen sich Transporte nur bedingt verlagern: Nach Angaben der Frachtraumbörse Timocom ist der Laderaum in Lkw derzeit begrenzt.

Damit zumindest die Hauptverkehrsadern der deutschen Wirtschaft nicht allzu sehr verstopfen, haben die Hamburger Hafenbahn, mehrere Eisenbahnverkehrsunternehmen und die Container-Terminals ein zentrales Management eingerichtet. Dessen Aufgabe ist es, die nicht streikenden Lokführer flexibel einzusetzen und so sicher zu stellen, dass wichtige Ware weiterhin ankommt. "Undenkbar wäre zum Beispiel, dass Kraftwerken durch den Streik der Kohle-Nachschub verwehrt bleibt", erläutert Kuhrt.

Die Bahn-Tochter Railion hat sich dafür Verstärkung von außen geholt. "Um die Auswirkungen für unsere Kunden so gering wie möglich zu halten, unterstützen uns unsere Tochtergesellschaften und ausländische Partnerbahnen mit Lokführern", sagte ein Railion-Sprecher SPIEGEL ONLINE.

Auch in den eigenen Reihen habe man all die aktiviert, die einen Lokführerschein gemacht haben und jetzt einen Bürojob haben. Das Personal an den Güterbahnhöfen wurde verstärkt.

Draußen auf den Gleisen quietschen wieder die Bremsen, ein weiterer Zug erreicht den Bahnhof Alte Süderelbe. Wieder rollen braunen Container vorbei, die Gleise füllen sich. Im Tower plärrt die Fernsprechanlage. "Wir sind gut vorbereitet", sagt Christiane Kuhrt, trinkt den Kaffee aus und schenkt sich nach. Es wird sicher eine lange Nacht.

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