Wenn Außenminister Hans-Dietrich Genscher am Freitag nach Paris fliegt, trägt er schwere Ware im Gepäck: eine undiplomatisch harte Analyse der französischen Wirtschaft. Die Studie wurde Genscher am 19. Januar telegraphisch von der deutschen Botschaft in Paris übermittelt. »Noch sind in Frankreich die Voraussetzungen für eine Wettbewerbsgesellschaft nicht voll gegeben«, heißt es in dem Telegramm. Herablassend stellen die Botschaftsexperten fest, für den Einsatz des Kapitals im industriellen Bereich« fehle den Franzosen »immer noch die psychologisch-intellektuelle Prädisposition«. Beklagenswert sei auch, daß der Gewinn - »Nachklang des mittelalterlichen Raubgedankens« - im Partnerland nimmer noch als ungerechtfertigte Bereicherung angesehen« werde. Grund: »Der Umstand, daß im Frühkapitalismus der Staat bestimmten Privaten, vor allem Adeligen industrielle Monopole und damit bis heute erhaltene Riesenvermögen zuschob, hat diese Vorstellung insbesondere in der Arbeiterklasse festgeschrieben.« Den französischen Unternehmen, monieren die Diplomaten, fehle der lange Atem, sich gegen die Konkurrenz aus anderen Industrieländern zu behaupten, »nachdem die Kolonien bzw. die Frankophonie weitgehend als Abnehmer vornehmlich qualitativ nicht anspruchsvoller Waren ausgefallen sind«. Und weiter: »Kalkulieren im industriellen Bereich ist ein Problem, an dem viele ihre Grenzen finden«. Fazit der deutschen Diplomaten: Frankreich habe »noch keinen gesicherten Platz im Spitzenpeloton« der Industrienationen.
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