FRANKREICH Sturm im Morgengrauen
»Das könnte eine Revolution sein«, meinte in der vergangenen Woche das Pariser Rechtsblatt »L'Aurore«.
Eine Revolution -- zumindest eine grundsätzliche Wende in den Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern -- könnte in der Tat das Experiment einer Industriekommune werden, in die Frankreichs Regierung am Dienstag vergangener Woche die Armee einmarschieren ließ: Lip.
Knapp zwei Monate lang hatten etwa 1300 Arbeiter in Besançon den wohl originellsten Streik der französischen Geschichte organisiert: Sie befanden sich zwar im Ausstand, arbeiteten aber mehr als je zuvor. Und mit der Arbeit finanzierten sie ihren Streik.
Lip, Frankreichs renommiertester Uhrenfabrikant, war im Juni zahlungsunfähig geworden -- zumindest stellte dies die Geschäftsführung des von der Schweizer Firma Ebauches S. A. kontrollierten Unternehmens fest. Lips Arbeiter hingegen vermuteten einen Trick der Schweizer, die sich ihrer französischen Konkurrenz entledigen wollten -- und besetzten das Werk.
Von den Fehlern der Kapitalisten profitierend (die Lagerbestände für 4,8 Monate angelegt hatten, wo Vorräte für höchstens 2,5 Monate genügt hätten), montierten Lips Werker weiter Uhren und verkauften diese für 42 Prozent (den Händlerrabatt) unter Preis -- am Ende über 50 000 für mehr als acht Millionen Franc.
Von den nicht benutzten Maschinen montierten die Arbeiter Schlüsselteile, aus den Computern entfernten sie Programme, aus der Verwaltung entwendeten sie die gesamte Kundenkartei und schafften sie in Verstecke -- dazu etwa 60 000 fertige Uhren als »Geiseln«, wie sie es nannten.
Aus dem Erlös der in ganz Frankreich vertriebenen Uhren zahlten die Arbeiterräte die Löhne. Das war nicht rechtens. Aber die Arbeiter konnten sich auf die Sympathie hochgestellter Franzosen berufen. Selbst Premier Messmer hatte die Lip-Aktion anfangs »legitim« genannt.
Der Grund für die Milde: Frankreichs Regierung setzte darauf, daß den rebellischen Arbeitern die Lust am Kommunespielen vergehen werde.
Als sich diese Hoffnung nicht erfüllte, versuchte es die Regierung mit Verhandlungen. Doch ein aus Paris entsandter Vermittler, der den Arbeitern einen Sanierungsplan vorschlug, mußte unverrichteterdinge wieder zurückkehren.
Ende Juli verhängte ein Gericht in Besançon über das Unternehmen den Konkurs und schickte den Gerichtsvollzieher in die Werkshallen -- die Arbeiter schickten ihn wieder hinaus.
Dann, im tiefsten Ferienmonat August, als 60 Prozent der französischen Produktion ruhte und nahezu alle Oppositionspolitiker und Gewerkschaftsführer am Strand lagen, schlug die Regierung zu: Dienstagmorgen vergangener Woche, Viertel vor sechs, ließ sie 3000 Mann der Armeetruppe »Gendarmerie mobile« (Mindestrang: Unteroffizier) die Lip-Werke stürmen.
Nur etwa 30 Arbeiter hatten Nachtdienst in den Fabrikhallen, nur drei von ihnen wachten. Bevor sie ihre Kollegen geweckt hatten, hatte die Gendarmerie das Werk besetzt.
In Besançon und mehreren anderen Städten Frankreichs traten Arbeiter in Sympathiestreiks. Einige tausend lieferten den Ordnungshütern noch gegen Wochenende Straßenschlachten.
Um die im ganzen Land um sich greifende Sympathiewelle zu glätten, legte Ende vergangener Woche Frankreichs Industrieminister Jean Charbonnel den Lip-Arbeitern einen Kompromißvorschlag vor. Danach sollen 950 der entlassenen Lip-Werker wieder an ihre Arbeitsplätze zurückkehren. Dem Rest soll sechs Monate lang 90 Prozent des alten Gehalts ausgezahlt werden.
Einzige Bedingung: Die Lip-Rebellen sollen zuvor das Beutegut herausrücken. Doch dazu Lip-Arbeiterführer Piaget: »Wir denken nicht daran.«