GEWERKSCHAFTEN Table-Dance in Puebla
Der Boulevard Norte liegt nicht gerade in der feinsten Gegend Pueblas. Die Provinzhauptstadt südöstlich von Mexiko City hat schönere Ecken als jene Ausfallstraße. An Hausnummer 1038 werben Plakate mit kaum bekleideten Frauen für den »Industrial Strip«, ein Lokal, das ein »nuevo concepto en table dance« anbietet, eine neue Version des Table-Dance.
Am Abend des 18. Mai 2006 suchten hier Frank Patta, damals Zweiter Bevollmächtigte der IG Metall Wolfsburg, und zwei weitere Kollegen Entspannung. Die Arbeiterführer waren beim deutsch-iberoamerikanischen gewerkschaftlichen Netzwerktreffen in Puebla. Der VW-Konzern hat dort ein Werk, in dem unter anderem der VW Beetle gebaut wird.
Das Bier im Strip-Club wäre die Privatangelegenheit des Wolfsburger Gewerkschafters geblieben, wenn er es dabei belassen hätte. Doch als der Zweite Chef der deutschlandweit zweitgrößten Verwaltungsstelle der IG Metall wieder zu Hause war, rechnete er die Ausgaben von 1500 mexikanischen Peso - umgerechnet 105,65 Euro - als Spesen ab.
Zu dieser Zeit war die VW-Affäre längst aufgeflogen: Auch unter Gewerkschaftern war die Empörung groß über den damaligen VW-Betriebsratschef Klaus Volkert und andere Arbeitnehmervertreter von VW, die sich in früheren Jahren Bordellbesuche vom Konzern hatten bezahlen lassen. Gewerkschafter Patta schien dies nicht zu irritieren.
Dass sein Bier in Puebla überhaupt bekannt wird, hat mit einem Arbeitsgerichtsprozess in Frankfurt am Main zu tun. Die IG Metall hat Michael Semenow fristlos entlassen, der zehn Jahre als Kassierer in der Verwaltungsstelle Wolfsburg und zuletzt als Geschäftsführer der Servicegesellschaft für Mitglieder der IG Metall gearbeitet hatte. Sie wirft Semenow mehrmalige Überschreitung seiner Kompetenzen und grobe Verletzung seiner Pflichten vor.
Der Entlassene klagt dagegen und unterstellt seinerseits dem heutigen Chef der Wolfsburger IG Metall eine Reihe von Vergehen. Es geht um die Verschwendung von Mitgliedsbeiträgen und fragwürdige Spesenabrechnungen.
Auch der damals noch stellvertretende VW-Betriebsratschef Bernd Osterloh wird vom ehemaligen Kassierer attackiert: Patta habe auch einen vermeintlich privaten Restaurantbesuch mit Osterloh als Spesen bei der Gewerkschaft abgerechnet.
Es sind keine großen Summen, um die es in diesem Fall geht. Im Zentrum steht das Grundsätzliche: Wie gehen Gewerkschaftsfunktionäre mit den Beiträgen ihrer Mitglieder um, die ein Prozent ihres Monatsgehalts abführen müssen? Und wie will die IG Metall noch glaubwürdig die Selbstbedienungsmentalität auf den Top-Etagen der Industrie geißeln, wenn es in der eigenen Organisation einen zumindest zweifelhaften Umgang mit Geld gibt?
Ein Vorgang spielt im Jahr 2002, Patta war damals Leiter der Vertrauensleute bei VW. Am 22. Juni feierte die IG Metall ihr Sommerfest in der Wolfsburger Reithalle. Patta legte Musik auf. VW-Betriebsrat Osterloh sagte seinem Kassierer Semenow, er solle Patta dafür 1000 Euro auszahlen. Semenow zahlte.
Erich Bach, Chef der Internen Revision der IG Metall, erklärt dazu gegenüber dem SPIEGEL, dass Patta damals ehrenamtlicher IG-Metall-Funktionär und für die Aufgabe als DJ bestens geeignet war. »Somit sprach nichts gegen eine entsprechende Honorierung.«
Als interessanteren Beleg für vermeintliche Geldverschwendung der Wolfsburger IG Metall führt Ex-Kassierer Semenow die Ausstattung der Büros im neuen Verwaltungsgebäude an. Entsprechend der Ausschreibung erhielten die einfachen Mitarbeiter der Gewerkschaft Bürostühle für 374,85 sowie Besucherstühle für 213,01 Euro. Der inzwischen zum Ersten Bevollmächtigten aufgestiegene Patta und sein damaliger Zweiter Bevollmächtigter Thilo Reusch dagegen sollten feiner sitzen. Ihre Bürostühle kosteten jeweils 2556,64 Euro, die Besuchersessel 1621,02 Euro. Insgesamt bezahlte die IG Metall für die standesgemäße Ausstattung der beiden Chefbüros 24 777 Euro.
Revisionsleiter Bach räumt ein, dass »die Kosten der Bürostühle sicherlich im oberen Bereich des Vertretbaren liegen«. Weil sie vom zuständigen Wolfsburger Ortsvorstand beschlossen worden waren, sei dies aber nicht zu beanstanden gewesen. Im Übrigen habe der damalige Wolfsburger Kassierer Semenow die Rechnungen unterschrieben.
Der wiederum sagt, er sei gegen Verschwendung angegangen. Er habe sich beispielsweise geweigert, die Rechnung Pattas aus dem Strip-Lokal abzuzeichnen. Das erledigte dann der damalige Geschäftsführer der Verwaltungsstelle. Der unterschrieb die Quittung und setzte einen Stempel drauf: »sachlich richtig«.
Ex-Kassierer Semenow führt auch eine Essensquittung als Beleg für den laxen Umgang mit dem Geld der Gewerkschaft an. Am 17. Juni 2005 waren Patta und VW-Betriebsrat Osterloh mit ihren Lebensgefährtinnen im Restaurant Casa Antigua essen. Die Rechnung über 165,60 Euro ließ sich Patta von der IG Metall erstatten. Anlass der Bewirtung laut Quittung: »Dienstliches Gespräch Situation bei VW«.
Semenow glaubt, dass es sich um ein privates Essen gehandelt habe, weil die Freundinnen der Gewerkschafter dabei waren. Revisor Bach sagt, es sei ein Dienstgespräch gewesen über »mögliches Fehlverhalten einzelner Betriebsratsmitglieder« in der VW-Affäre und die Auswirkungen »auf die IG Metall, ihre Funktionäre und möglicherweise deren Partnerinnen«.
Der einstige Kassierer hält Osterloh zudem vor, dass er als ehrenamtlicher Revisor der Verwaltungsstelle Belege nicht ausreichend geprüft habe. Chefrevisor Bach erklärt dazu, dass bei jährlich über 7000 Belegen nur in Stichproben intensiv geprüft werden könne.
In Wolfsburg kursierten bald Gerüchte über die angebliche Geldverschwendung des Gewerkschafters Patta. Der vermutete, dass sein Kassierer Semenow sie streute. Es missfiel Patta auch, wie der Finanzchef der Verwaltungsstelle Aufträge vergab, die ihm überteuert vorkamen.
Im Frühjahr 2007 lobte er den langjährigen Kassierer deshalb weg in die Frankfurter IG-Metall-Zentrale. Dort wurde die Servicegesellschaft gegründet, eine IG-Metall-Tochter, die für Mitglieder günstigere Konditionen bei Versicherungen, Touristikanbietern oder Autoclubs aushandelt. Semenow wurde deren Geschäftsführer.
Gewerkschafter Patta beauftragte bei der Vorstands-Revision eine vollständige Überprüfung von Semenows Tätigkeit in den Jahren 2005 bis 2007. Resultat: mehr als 50 Beanstandungen, mehr als die Hälfte davon direkt in Semenows Verantwortungsbereich. Außerdem warf man dem Finanzmann vor, sich entgegen den Reiseregelungen der Gewerkschaft eine Jahresnetzkarte der Deutschen Bahn gekauft zu haben, obwohl Semenows neue Tätigkeit viele Reisen erforderte. Zudem habe er sich auf Kosten der IG Metall Gleitsichtgläser für die Brille anfertigen lassen.
Semenow sollte eine Abmahnung unterschreiben. Er fühlte sich von Patta sowie IG-Metall-Hauptkassierer und Vorstandsmitglied Bertin Eichler provoziert. Nachdem er auf die fragwürdige Ausgabepraxis in Wolfsburg hingewiesen hatte, sollte ihm nun zweifelhafter Umgang mit Gewerkschaftsgeld vorgeworfen werden. Der einstige Kassierer wies die Anschuldigungen zurück. Wenn man ihn so in die Ecke dränge, werde er seine Trümpfe ziehen, signalisierte Semenow dem Vorstandsmitglied Eichler. Mit Trümpfen meinte er vor allem die Quittung aus Mexiko oder den Beleg über 1000 Euro DJ-Lohn für Patta.
Eichler sicherte Semenow zu, er werde seine Vorwürfe gegenüber Patta ebenfalls von der Vorstands-Revision prüfen lassen, beharrte aber auf der Unterschrift unter der Abmahnung für ihn selbst. Ansonsten sei sein Job bei der Servicegesellschaft in Gefahr. Am 24. August 2007 schickte Semenow eine SMS an Eichler, er werde die Abmahnung unterschreiben. Einen Tag später kam die Replik: »Danke, das freut mich, Gruß Bertin«.
Die Prüfung durch die interne Revision in Sachen Patta ergab keine Beanstandung. Stattdessen »war das Ausgabeverhalten des Kollegen Semenow in zahlreichen Fällen zu beanstanden«, notierten die Prüfer.
Ende vergangenen Jahres folgte eine fristlose Kündigung Semenows bei der Servicegesellschaft. Auch dort, so der Vorwurf der IG Metall, habe es »gravierende Unregelmäßigkeiten« bei Geschäftsbeziehungen mit Dritten gegeben.
Dennoch gerät auch die IG Metall unter Druck. Sie muss sich fragen lassen, weshalb sie Semenow 2007 noch zum Geschäftsführer der Servicegesellschaft gemacht hat, wenn es schon damals schwere Bedenken gegen ihn gab. Und warum die IG-Metall-Richtlinien es zulassen, dass Semenow eine Abmahnung wegen des Kaufs einer Bahnkarte und von Gleitsichtgläsern bekam, der Wolfsburger IG-Metall-Boss Patta aber folgenlos die Ausgaben in einem mexikanischen Strip-Lokal abrechnen konnte.
Semenow glaubt, dass die Gewerkschaft sich mit der Kündigung an einem Kritiker revanchieren will, und klagt gegen seinen Rausschmiss. Zurzeit erhält er Arbeitslosengeld I, ab April 2010 Hartz IV. Dass er auf seinen Arbeitsplatz zurückkehren kann, gilt als unwahrscheinlich. Für Semenow hat der Fall nur einen Verlierer: ihn selbst.
Sein Kontrahent Patta sieht sich ebenfalls in der Opferrolle. Als Chef der Wolfsburger Verwaltungsstelle habe er die Kosten gesenkt und sei jetzt dem Vorwurf ausgesetzt, er verprasse das Geld.
Die Rechnung aus der mexikanischen Table-Dance-Bar erklärt Revisor Bach so: »Nachdem die Teilnehmer feststellten, dass sie sich in einem Striptease-Lokal befanden«, sei die Rechnung bezahlt worden - »und man verließ das Lokal umgehend«.
Wenn diese Erklärung stimmt, muss Patta den Weg zum Lokal wohl mit geschlossenen Augen zurückgelegt haben. An der Seitenwand und über dem Eingang hängen zwei Plakate mit Stripperinnen. Sie sind etwa drei mal drei Meter groß. Abends werden sie beleuchtet.
DIETMAR HAWRANEK, JANKO TIETZ