Tankstellenmarkt Ringen um Mars-Riegel und Bier

Sie kämpfen um jeden Schokoriegel: Weil sie mit Benzin kaum noch etwas verdienen, konzentrieren sich Tankstellenpächter auf die Verkäufe in den Shops. Doch die Mineralölkonzerne wollen mitverdienen. Und bedrohen damit Existenzen.
Von Felix Ehlert

Hamburg - Die Trennung kam nicht ganz unerwartet, nach 44 Jahren Partnerschaft dann aber doch irgendwie abrupt. Fast ein halbes Jahrhundert hatte Wilhelm Becker mit der Tankstellenkette Esso zusammengearbeitet und mehrere Filialen im Ruhrgebiet gepachtet. Im September ist Schluss.

Becker ist einer von vielen Esso-Pächtern in der Region, deren Verträge gekündigt wurden. Bis zu 120 sind es nach Informationen von SPIEGEL ONLINE.

Der aktuelle Vorstoß von Esso im Ruhrgebiet gehört zur dritten großen Welle von Kündigungen. Zuvor hatte die 100-prozentige Tochterfirma ROC bereits Tankstellen in den Ballungsgebieten München und Frankfurt übernommen. 150 Stationen betreibt sie mittlerweile bundesweit.

Pächter, deren Verträge jetzt fristgerecht gekündigt wurden, dürfen eine offizielle Bewerbung schicken, wenn sie künftig in einer der ROC-Tankstellen arbeiten wollen - als Angestellte. Die Selbständigkeit ist weg, die Verunsicherung groß. Wer zuvor bei einem Pächter angestellt war, werde automatisch von der ROC übernommen, sagt ein Esso-Sprecher. So auch die Geschäftsführerin von Wilhelm Becker aus Hattingen. Sie wird zur Kassiererin degradiert.

Der 68-Jährige Becker selbst empfindet die Kündigung als Vertrauensbruch. "Ich habe der Esso immer aus der Patsche geholfen. Wenn kurzfristig irgendwo ein Pächter gesucht wurde, bin ich eingesprungen." Jetzt will Becker sich eine neue Tankstellenkette suchen - oder etwas ganz anderes machen. Das Büro, das er auf eigene Kosten eingerichtet hat, will er der ROC nicht überlassen. "Bevor ich mich mit 100 Euro abspeisen lasse, schmeiße ich die Sachen lieber weg." Für das Vorgehen von Esso hat Becker kein Verständnis: "An Tankstellen hängen doch Schicksale."

Offenbar hat es der Mineralölkonzern besonders auf die Einnahmen aus den lukrativen Verkäufen in den Tankstellen-Shops abgesehen. Auch wenn Esso betont, es gehe um mehr Kundenfreundlichkeit durch ein einheitliches Sortiment und feste Preise.

Es sind die kleinen und großen Einkäufe aus Lebensmitteln und Auto-Pflegeprodukten, die die Tankstellenpächter in Deutschland bislang über Wasser gehalten haben. Nach Schätzungen des Bundesverbands Tankstellen und gewerbliche Autowäsche (BTG) erlangt die durchschnittliche Station damit deutlich mehr als die Hälfte ihres Bruttoverdienstes. Die kleine Provision für verkauftes Benzin wird meist schon durch die bloßen Betriebskosten wieder aufgefressen. Dass die großen Mineralölkonzerne kräftig an den Shop-Einnahmen mitverdienen wollen, bedroht einen ganzen Berufsstand.

Weil sie so lukrativ waren, haben sich die Shops in den vergangen Jahren stark verändert: Die einst spartanischen Verkaufsräume der Tankstellen wurden zu Snack-Palästen mit umfangreichem Sortiment umgestaltet. Die Einnahmen der Pächter stiegen. In ländlichen Gebieten hat der Tankstellen-Shop inzwischen die Grundversorgung mit Lebensmitteln übernommen. Aber auch andernorts schätzen Käufer aus allen Bevölkerungsschichten, dass sie dort frühstücken, Zeitungen kaufen und sich nach dem Ladenschluss der normalen Geschäfte mit alkoholischen Getränken versorgen können. Viele Shops verkaufen bereits frische Backwaren und heißen Kaffee. "Das Bistro-Angebot wird derzeit noch weiter ausgebaut", sagt BTG-Geschäftsführerin Sigrid Pook.

Der Griff von Esso nach den kompletten Shop-Einnahmen ist insofern bemerkenswert, weil auch bisher die Multis schon an der Kreativität und Einsatzbereitschaft ihrer Pächter gut verdient haben.

Von jedem verkauften Schokoriegel, Bier-Sixpack und Milchkarton profitieren die Mineralölkonzerne nach Angaben des Verbands des Tankstellen- und Garagengewerbes (VTGD) sogar gleich doppelt: Zum einen durch eine vertraglich festgeschriebene Umsatzbeteiligung in Höhe von 7 bis 14 Prozent, zum anderen, weil die Tankstellenbetreiber oftmals gedrängt würden, bei den Großhändlern einzukaufen, mit denen die Konzerne ihrerseits provisionsträchtige Verträge abgeschlossen haben.

Auch Esso übe Druck auf seine Geschäftspartner aus, damit sie Lebensmittel beim Großhändler Lekkerland erwerben, sagen Pächter zu SPIEGEL ONLINE. "Wer nicht mitzieht, bekommt die Kündigung. Oder es wird einfach die Pacht erhöht", sagt einer. Beide Konzerne bestreiten dies jedoch. Es gebe lediglich einen Rahmenvertrag, sagt eine Sprecherin des Convenience-Unternehmens. Von Provisionszahlungen an Mineralölkonzerne sei ihr nichts bekannt. Der Esso-Sprecher verweist auf die Preisvorteile und die Bequemlichkeit, die der Einkauf bei Vertragspartner Lekkerland mit sich bringe.

Ob das pächterlose Konzept von ROC dauerhaft greift, ist fraglich. "Die Leute gehen nicht zur Esso - sie gehen zu Esso Henke", sagt Wilfried Henke, der im Dezember die Tankstelle verlassen muss, die er seit 22 Jahren in Hagen betreibt. Die enge Kundenbindung gehe ohne Pächter verloren.

In der Vergangenheit sind immer wieder Versuche, Tankstellen selbst und ohne Pächter zu betreiben, gescheitert. Fast alle Marken unterhielten schon eigene Stationen - zumeist, um Waren und Konzepte besser testen zu können. Doch es blieb bei Versuchen. Vermutlich wegen fehlender Rentabilität. "Nur mit Angestellten funktioniert eine Tankstelle nicht so gut wie mit Pächter. Wer als Unternehmer tätig ist, steckt in der Regel mehr Energie in sein Geschäft", sagt BTG-Geschäftsführerin Pook.

Geschäftsmodelle wie das der ROC machen Hartmut Görges vom VTGD trotzdem Sorgen: "Wir müssen damit rechnen, dass langfristig der Mittelstand aus den Tankstellen vertrieben wird."

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