Telekom-Brandbrief-Schreiber Revolutzer 2007
Berlin - Es war ein Sonntag Ende Juli, da traf der gelernte Fernmeldetechniker den Bundespräsidenten, und beide verstanden sich gut. Horst Köhler war als VIP für den finalen Talk von "Sabine Christiansen" geladen, und auch Lutz Paege war da, der Beamte aus Berlin-Lichtenrade. Er sollte im Studio Auskunft geben über Streit und Stunk bei der Telekom.
Beide begegneten sich vor der Maske, man gab sich die Hand. Köhler war gut instruiert. Er wusste, wer Paege ist und warum er hier wartete. Sie sprachen miteinander, fünf, zehn Minuten lang: über Gehälter und Gebaren deutscher Manager, über die hohen Tarife der Telekom. Paege, im Herzen eigentlich ein Grüner, war angetan vom CDU-Mann aus dem Schloss Bellevue. "Ein menschlicher Typ, sehr sympathisch. Man merkt ihm gar nicht an, dass er Präsident ist."
Eine Ironie gibt es bei dieser Geschichte: Lutz Paege, 48, hat jetzt zwar den höchsten Mann im deutschen Staate kennengelernt. Seinen eigenen Vorstandschef aber durfte und konnte er bis heute nicht sprechen.
Dabei hatte mit einem Brief an René Obermann, den Telekom-Chef, alles angefangen. Die Aufregung. Die vielen Telefonate. Die Instant-Prominenz im Konzern und außerhalb. Sie brachte Paege Interviewanfragen von Zeitungen ein und Fernsehauftritte - außer dem bei "Christiansen" noch einen zweiten bei "Maischberger". Paege ist der Mann, über den die "Süddeutsche" schrieb: "Für viele Telekom-Mitarbeiter ist der 48-jährige Techniker ein Held." Im "Berliner Kurier" stand: "In einem gesalzenen Protestbrief liest T-Com-Techniker Lutz P. seinen Chefs die Leviten. [Seine E-Mail] verbreitete sich im Konzern wie ein Lauffeuer."
"Willst du das wirklich abschicken?", fragte die Freundin
Die Geschichte beginnt an einem Wochenende im März. Paege setzt sich in seinem Hobbyzimmer an den Rechner und tippt sich den Frust aus dem Leib, der sich seit Jahren dort festgefressen hat. Er schreibt mehrere Morgen und Feierabende lang, oft spät abends. Er kämpft mit den Worten und kopiert Passagen hin und her, bis ihm die Reihenfolge gefällt.
50.000 Telekom-Mitarbeiter, das hat das Obermann-Management gerade kundgetan, sollen ausgelagert werden. Ihr künftiger Arbeitgeber wird eine ganz neue Konzernsparte sein, Arbeitstitel: T-Service. Weniger Gehalt, mehr Arbeit, ein späterer Verkauf an einen Investor nicht ausgeschlossen - bei Betroffenen heißt Obermanns Kostensparkonstrukt bald schon "T-Servus".
Paege reicht's. Denn er ist einer der 50.000.
"Sehr geehrter Herr Obermann, Herr Höttges und Herr Welslau, sehr geehrte Herren in den Vorstandsetagen", beginnt er seine E-Mail ans Management. Er schreibt von der "Arroganz und Selbstherrlichkeit" einer Konzernführung, die kopflos umstrukturiere und "skrupellos einen immer größer werdenden Scherbenhaufen" hinterlasse. Dann ziehe sie "mit vollgestopften Taschen weiter, um im nächsten Unternehmen das Gleiche zu tun".
"Willst du das wirklich abschicken?", zweifelt Paeges Freundin Manuela, als die E-Mail fertig ist. Er tut es.
Die gleichen Ängste überall
Zeitsprung. Es ist Herbst in Berlin, ein Spätnachmittag nach Feierabend, und Lutz Paege sitzt mit einem "Gespritzten" im "Janus". Es ist die Art Kneipe, wo es Schinkenrouladen mit Hackfleisch gibt, alte Berlin-Fotos in Schwarzweiß und - laut Eigenwerbung "Musik für alle unter 100". Paege war schon häufiger hier, seine Eltern wohnen in der Nähe. Er trägt einen roten Anorak, eine braune Strickjacke darunter, auf seiner Halbglatze stehen die rötlich schimmernden Haarstoppel stramm.
An den März und alles was folgte denkt Paege mit einer Mixtur aus Stolz und Verblüffung. Dass er über Nacht zu einem Bannerträger der Rationalisierungskritik aufstieg es hat ihn genauso überrascht wie alle anderen. "Ich wollte einfach Dampf ablassen", sagt er. Anfangs schickte er seine Brand-Mail nur an den Vorstand, Kollegen und Gewerkschafter. Binnen Stunden wurde sie weitergeleitet, breitete sich in allen Konzernsparten aus, vieltausendfach verschickt. Paeges Text wurde bei Betriebsversammlungen verlesen, erzählt ein Gewerkschafter. Die "Junge Welt", heise.de und SPIEGEL ONLINE veröffentlichten den Brief allein hier wurde er bis dato 160.000-mal angeklickt und aufgerufen.
Er habe, ohne es zu wollen, "den Nerv der Menschen getroffen", sagt Paege heute. Über 1000 E-Mails von meist völlig Unbekannten erhielt er, die ihm für seine Worte dankten. Zustimmung kam nicht allein aus der Telekom: Er habe von einem Büro bei der Allianz gehört, "da hängt der Brief immer noch an der Wand." Bei vielen Konzernen, so zeigt sich, hegen Mitarbeiter die gleichen Ängste: vor einem Management, das unverständliche Sparentscheidungen trifft, nicht mehr die Sprache seiner Mitarbeiter spricht und selbst nach Fehlleistungen fürstlich belohnt wird.
"Die Beleidigungsgrenze mehrfach überschritten"
Die erste Reaktion des T-Managements auf Paeges E-Mail-Manifest war: Ärger, Unverständnis, Trotz. Die E-Mail sei beleidigend, zürnte ein Telekom-Sprecher Mitte März - und eigentlich wollte er gar nicht darüber reden. Tatsächlich fährt Paege viele drastische Vokabeln gegen das Management auf: skrupellos, rücksichtslos, eiskalt.
Am Schluss musste Obermann doch reagieren: Ende März verschickte er eine Replik, 859 Wörter lang nicht nur an Paege, sondern per E-Mail an sämtliche Beschäftigten der Telekom. "Im Moment wird sehr heftig über einen Brief diskutiert, der von einem T-Com-Mitarbeiter aus Berlin verfasst und öffentlich gemacht wurde", bemerkt Obermann - und es habe noch "zahlreiche" andere kritische E-Mails gegeben. Die "Beleidigungsgrenze", rügt er, sei darin "mehrfach überschritten" worden.
David gegen Obermann: Dass ein Vorstandschef quasi-öffentlich auf eine Mitarbeiter-Mail reagieren muss das hatte es in Deutschland noch nicht gegeben. Die Belegschaft eigentlich anonymer Konzerne, das zeigt sich, gewinnt dank E-Mail, Intranet, Blogs oder YouTube ein neues Medium für Ausdruck und Protest. Wer den richtigen Ton trifft, kann über Nacht zum Sprecher für Zigtausende aufsteigen. Es müssen nicht mal elegant formulierte Worte sein. Hauptsache, sie klingen authentisch wie die von Lutz Paege.
Nach dem Aufruhr um seine E-Mail hat er sich ein eigenes YouTube-Profil angelegt, unter dem er Videos rund um den Fall Telekom eingestellt hat. Sein Benutzername: "Revolutzer2007".
Ein Job fürs Leben
Paege ist eine kleine Ewigkeit bei der Telekom - wirklich weg wollte er nie. Gleich nach der Realschule lernte er 1975 Fernmeldehandwerker im Unternehmen, das damals noch Deutsche Bundespost hieß. Für eine Übergangsfrist sortierte er Pakete, fuhr sie aus. Er verlegte Kabel fürs Fernsehen, wurde mit 30 Beamter. Inzwischen richtet er feste Datenverbindungen für Firmenkunden ein.
Paege ist ein kleines Rad im 250.000-Leute-Konzern. Doch in seiner E-Mail steht: "Diese Telekom ist und war immer mein Leben." In der Kneipe "Janus" sagt er, der ein Mal geschieden ist: "Nicht mal die Familie war so stabil."
Am Anfang freuten sich Paeges direkte Kollegen noch über seinen plötzlichen Ruhm irgendwann reagierten sie genervt. Dauernd klingelte sein Telefon, Paege kam kaum zum Arbeiten und störte auch noch. Für eine Zeit zog er sich aus dem Außendienst zurück. Inzwischen ist die Aufregung verflogen. "Ich arbeite mit denselben Kollegen, mit denselben Messgeräten", sagt Paege. Doch die Arbeitszeiten sind vier Stunden pro Woche länger beim alten Lohn, und formal arbeitet Paege nun für eine neu gegründete Servicegesellschaft - die DTTS GmbH. Ab 2010 kann sie verkauft werden; dann endet ein Abkommen mit der Gewerkschaft.
Repressalien gab es nicht wegen der E-Mails - nur "schiefe Blicke" und irgendwann später einen Termin beim Niederlassungsleiter. "Dem habe ich vermittelt, dass ich die Telekom nicht in Misskredit bringen möchte", sagt Paege. "Das ist doch das Letzte, was ich will." Zweimal bemühte sich auch T-Com-Personalvorstand Dietmar Welslau um ein Treffen. Beide Male wurde der Termin kurzfristig abgesagt, einen neuen gibt es nicht.
Am liebsten würde sich Paege ohnehin mit Obermann treffen. "Das wird er aber nicht machen", ahnt Paege. "Das ist so eine Stolzgeschichte."
In "Berlin Mitte" ungesehen
Auch bei "Maybrit Illner" war Lutz Paege schon nicht als Gast, sondern draußen vor der Tür. Das war am 19. April, man debattierte die Frage "Was haben wir vom Aufschwung?", und außer Oskar Lafontaine und Wirtschaftsminister Glos war auch René Obermann da. Es war die Sendung, in der die Talkerin und der Manager sich schätzen lernten. Es war auch die Zeit, in der die Wut der Telekom-Basis überschäumte und Ver.di auf den allerersten Streik der Konzerngeschichte zumarschierte.
Paege hatte eine Trillerpfeife dabei. Zusammen mit gut hundert anderen Ver.dianern stand er vor dem ZDF-Hauptstadtbau und pfiff. Ihr Protest schallte so laut, dass die Tontechniker drinnen verzweifelten.
Seinen Vorstandschef bekam Paege auch damals nicht zu Gesicht. René Obermann umging die trillernden Demonstranten. Er nahm eine Hintertür.