Politisches Desaster
Thüringens Wirtschaft warnt vor langfristigem Schaden
Thüringer Wirtschaftsvertreter reagieren gespalten auf den Rücktritt des FDP-Ministerpräsidenten. Einige befürchten einen politischen Stillstand - und dauerhaften Schaden für den Standort.
Thüringens AfD-Fraktionschef Björn Höcke gratuliert Thomas Kemmerich am 5. Februar 2020 zur Wahl zum Ministerpräsidenten Thüringens: Einen unabsehbaren und womöglich irreparablen Schaden erlitten
Foto: HANNIBAL HANSCHKE/ REUTERS
Wie reagieren Unternehmensvertreter aus Thüringen auf das Debakel um die Ministerpräsidentenwahl? Die Antwort ist nicht eindeutig. "Wir begrüßen die Entscheidung der FDP-Fraktion, die Auflösung des Landtags zu beantragen, um zügig Klarheit für eine Regierungsbildung in Thüringen zu schaffenund Neuwahlen zu ermöglichen", erklärte Stephan Fauth, Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Wirtschaft Thüringens (VWT). Der gestrige Tag sei "keine Sternstunde der Demokratie für Thüringen" gewesen.
Unmittelbar nach der Wahl am Mittwoch hatte Fauth Thomas Kemmerich noch gratuliert. Der VWT ist die Spitzenorganisation der Thüringer Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände - und vertritt den Bundesverband der Deutschen Industrie im Land.
Der Vorstandsvorsitzende von Jenoptik, Stefan Traeger, sagte dem SPIEGEL: "Ich begrüße diese Entscheidung sehr. Wir als Unternehmen brauchen ein weltoffenes und vielfältiges Umfeld und auch möglichst stabile politische Verhältnisse."
Der Vorsitzende des Neuthüringer Unternehmerverbandes, Niels Neu, sagte dagegen, das Hin und Her schade dem Land. "Wirtschaft und Bürger erwarten, dass die Politiker endlich Thüringens Probleme anpacken, dass sie die Breitbandnetze ausbauen, Polizisten einstellen." Dafür müssten die Abgeordneten über die Parteigrenzen hinweg bei konkreten Gesetzesvorhaben zusammenarbeiten, forderte Neu, der selbst CDU-Mitglied ist. "Wenn es jetzt Neuwahlen gibt, werden wir wieder Zeit verlieren - und die Wähler immer ungeduldiger machen. Wir können nicht so lange wählen lassen, bis das gewünschte Ergebnis herauskommt."
Auch ein Sprecher von Carl Zeiss kritisierte die politischen Manöver: "Als ein langfristig orientiertes und in Thüringen stark investierendes Unternehmen sind wir an stabilen politischen Verhältnissen interessiert", erklärte er gegenüber dem SPIEGEL. "Davon kann aus unserer Sicht im Moment in Thüringen keine Rede sein."
"Es geht nicht um eine politische Farbenlehre, sondern um Sachthemen"
Der Präsident der Industrie- und Handelskammer Erfurt forderte eine "schnelle Regierungsbildung mit Ministerien, die die weitere Entwicklung Thüringens als Mitte Deutschlands fest im Blick haben". IHK-Chef Dieter Bauhaus hatte schon am Mittwoch erklärt, alle Fraktionen müssten "offen und kompromissbereit" aufeinander zugehen. "Es geht nicht um eine politische Farbenlehre, sondern um Sachthemen." Nach Kemmerichs Rückzug sagte die IHK auf Nachfrage, diese Stellungnahme sei weiter aktuell.
"Die Ostthüringer Wirtschaft blickt sorgenvoll auf die weitere Entwicklung in Thüringen", schrieb die IHK Gera in einem Kommuniqué nach Kemmerichs Rücktrittserklärung. "Politischer Stillstand schadet dem Standort. Es muss schnellstmöglich gelingen, trotz schwierigster parlamentarischer Konstellationen eine handlungsfähige Landesregierung und sachorientierte Mehrheiten aufzustellen. Die Thüringer Wirtschaft braucht Planungssicherheit - und erwartet verlässliches Agieren für standortfreundliche Bedingungen."
Spiegel der gespaltenen Gesellschaft
Schon am Vormittag hatte die Wirtschaftsförderungsgesellschaft Jena verlauten lassen, das Ansehen Thüringens habe durch Kemmerichs Wahl mithilfe einer rechtsextremen Partei einen unabsehbaren und womöglich irreparablen Schaden erlitten. Der Unternehmerverband Thüringen wollte sich auf Anfrage nicht zum Fall Kemmerich äußern.
Die Reaktionen aus der Wirtschaft spiegeln die Spaltung der Gesellschaft in Thüringen wider. "Die einen fanden Kemmerichs Wahl gut, andere haben die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen", erzählt ein Insider, der mit mehreren Managern gesprochen hat. Überrascht wären fast alle gewesen. Wenige Wochen vor der Ministerpräsidentenwahl hatten zwei Unternehmerverbände die CDU aufgefordert, mit einer möglichen rot-rot-grünen Minderheitsregierung und ihrem Kandidaten Bodo Ramelow zu kooperieren.
Wirtschaft schwächelte zuletzt etwas
Was Thüringens Unternehmen eint: ihr Wunsch nach Stabilität und verlässlichen politischen Rahmenbedingungen. Wirtschaftlich lief es lange gut im Freistaat; zwischen 2015 und 2018 wuchs die Wirtschaftsleistung um gut neun Prozent. Die Arbeitslosigkeit ist seit 2005 von fast 17 Prozent auf 5,7 Prozent gefallen; kein anderes neues Bundesland hat eine niedrigere Quote.
Andererseits sind die Löhne im Bundesvergleich niedrig; viele Menschen arbeiten unter Tarif. Und zuletzt ließ das Wachstum stark nach: 2019 gab es nur noch ein Plus von 0,5 Prozent; die endgültigen Zahlen stehen noch aus. Allerdings ist die Wachstumsschwäche kein Phänomen, das auf Thüringen beschränkt ist: Im vergangenen Jahr stieg das Bruttoinlandsprodukt der gesamten Bundesrepublik nur noch um 0,6 Prozent.
Der Verband der Wirtschaft Thüringens nannte die Lage der ansässigen Firmen zum Jahreswechsel "sehr heterogen". Im Baugewerbe, Handel und Tourismus läuft es noch gut. Dagegen schwächeln Industriebetriebe aus der Metall-, Elektro- und Automobilindustrie. Rund um Eisenach haben mehrere Firmen Kurzarbeit angemeldet. Zu den möglichen Folgen einer monatelangen politischen Krise für die regionale Wirtschaft haben sich die Verbände bislang nicht näher geäußert.
Umso klarer positioniert sich ein Unternehmer: Harald Christ, bis vor kurzem Mittelstandsbeauftragter der SPD. "Der Schaden, der hier angerichtet wurde, ist enorm - nicht nur politisch, sondern auch für den Wirtschaftsstandort Thüringen", sagte Christ, der im Dezember aus der Partei ausgetreten ist, im Gespräch mit dem SPIEGEL. "Der Rücktritt von Herrn Kemmerich kann den Schaden nur begrenzen."
SPIEGEL+-Zugang wird gerade auf einem anderen Gerät genutzt
SPIEGEL+ kann nur auf einem Gerät zur selben Zeit genutzt werden.
Klicken Sie auf den Button, spielen wir den Hinweis auf dem anderen Gerät aus und Sie können SPIEGEL+ weiter nutzen.
Thüringens AfD-Fraktionschef Björn Höcke gratuliert Thomas Kemmerich am 5. Februar 2020 zur Wahl zum Ministerpräsidenten Thüringens: Einen unabsehbaren und womöglich irreparablen Schaden erlitten