BÖRSE Tiefer Keller
Amerikas prominentester Bankier, David Rockefeller, Präsident der Chase Manhattan Bank. hatte eigentlich nur einen Gemeinplatz verbreitet: »Manche Unternehmen«, so erklärte er Ende vorvergangener Woche, »werden wegen der Brennstoffknappheit möglicherweise ihren Betrieb stillegen müssen.
Wenig später, am Montag letzter Woche. hatten Broker und Bankiers den Tip beherzigt: Die New York Stock Exchange erlitt ihren größten Kurssturz seit elf Jahren; der Dow-Jones-Index, der die Kursentwicklung der 30 wichtigsten Industriekonzerne anzeigt, sauste um 28.67 Punkte abwärts. Lediglich Präsident John V. Kennedys Konflikt mit der Stahl-Industrie hatte am 28. Mai 1962 Nachkriegs-Amerika noch mehr gekostet: Damals rutschte die Maßzahl um 34,95 Punkte ab.
Rockefellers düstere Prognose von Stagnation und sechs Prozent Arbeitslosenquote hatte Börsianer aus einem Traum-Trip gerissen, auf den sie US-Präsident Richard Nixon mit seinen Andeutungen geschickt hatte, er sehe eine Möglichkeit für eine Wiederaufnahme arabischer Öllieferungen. In der vorvergangenen Woche, kurz nach der Nixon-Äußerung. war der Dow Jones innerhalb von dreißig Minuten um 17 Punkte hinaufgeschossen. Verunsichert von Energielücke und Ölkrise, zerrissen zwischen ungewissen Konjunkturängsten und -hoffnungen, taumelt die US-Börse derzeit hin und her. Alle analytischen Daten werden Makulatur. Autowerte wie Chrysler nur noch mit dem dreifachen Jahresgewinn gehandelt, Ford mit dem vierfachen und General Motors mit dem fünffachen. Einst galten Börsenkurse von US-Autoaktien. die beim zehn- bis fünfzehnfachen des Gewinns standen, als billig.
Kohle- und Uranminen-Aktien hingegen haben hohe Zeit. Die Walistreet wärmt sich an Experten-Schätzungen, nach denen die USA Kohlereserven noch für 1000 Jahre haben und allein bis Anfang der 80er Jahre über 100 neue Atomkraftwerke bauen werden. Folge: Kohle- und Uranbergbau-Werte erfreuen sich derzeit ebenso wie die Shares der Kernreaktor- Bauer General Electric, Westinghouse Electric oder United Nuclear regen Kaufinteresses.
Hilflos und zögernd auch reagierten Deutschlands Börsianer auf die Hektik an der Top-Börse der westlichen Welt, auf deren Tendenz sie sonst zu achten pflegten.
Während in New York die Kurse hektisch hin und her jagten, stiegen in der Bundesrepublik die Notierungen zunächst noch ruhig. Doch nach Bußtag war es auch damit vorbei, selbst Optimisten wollten nun nicht mehr. Nur wer, wie ein Düsseldorfer Börsenhändler, nach der Devise entschied »Wenn der Himmel einstürzt. werden alle Vögel begraben«, gab noch Orders. Prompt rutschten auch die deutschen Börsenkurse auf einen neuen Tiefpunkt.
Autowerte wie Daimler mußten einen Wochen-Verlust von 14,50 Mark einstecken, BMW ein Minus von 15 Mark. Ebenso litten die Chemiepapiere Schaden.
Und das Standard-Thema an allen westdeutschen Börsen war plötzlich vergessen: Kaum jemand interessierte sich noch dafür, ob nun die Bundesregierung ihre Stabilitätspolitik des knappen Geldes und der hohen Zinsen auf geben werde. »Was nützen beispielsweise niedrige Zinsen«, fragte etwa die Hamburgische Landesbank, »wenn eine Vielzahl von Unternehmen wegen akuten Energiemangels nur noch mit halber Kraft oder überhaupt nicht mehr produzieren könnte?«
Wie immer die Bank sich ihre Frage beantwortet: Den fünf Millionen meist kleinen Aktionären in der Bundesrepublik, die ihre Spargelder zum Teil im Hausse-Jahr 1969 an der Börse zu weit höheren Kursen investiert haben und seither bis zu einem Drittel einbüßten« stehen auch in Zukunft harte Zeiten bevor. Denn fast alle Unternehmen, an denen sie beteiligt sind, müssen sich darauf einrichten, daß die Energie teurer wird, die Rohstoffpreise weiter klettern und die Lohnkosten in den bevorstehenden Tarifrunden um mindestens zehn Prozent steigen werden.
Angesichts derlei Perspektiven verlegte sich ein ausgekochter Düsseldorfer Wertpapierhändler denn auch lieber aufs Staunen: »So ein Keller hat offenbar immer noch Möglichkeiten nach unten.«