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Frankreich Tod für nichts

Vor den Toren des französischen Automobilkonzerns Renault wurde ein Arbeiter erschossen. Kommunisten verhinderten, daß Linksextremisten daraus politisches Kapital schlagen konnten.
aus DER SPIEGEL 11/1972

Wenn es bei Renault nicht klappt, so wissen französische Politiker aus Erfahrung, klappt es auch in Frankreich nicht.

Am Freitag vorletzter Woche geschah bei Renault Ungeheuerliches: Ein Wachmann des staatlichen Autokonzerns erschoß den ehemaligen Renault-Werker René Pierre Overney, 23. Dafür, daß der Tod keine politischen Folgen hatte, sorgten die Kommunisten.

Am Freitag vorletzter Woche hatten sich vor dem Renault-Haupttor an der Avenue Emile Zola des Pariser Vororts Boulogne-Billancourt zum Schichtwechsel um 15 Uhr einige Dutzend Maoisten eingestellt und Traktate verteilt.

Neben Erdnußverkäufern und anderen ambulanten Händlern gehören die Linksextremisten auf dem schmuddeligen Werksvorplatz schon seit Monaten »fast zur Folklore der Firma« (so das Boulevard-Blatt »France-Soir"). Ihr Mentor, der Philosoph Jean-Paul Sartre, hatte sich Mitte Februar sogar in einem Mini-Lastwagen ins Werk geschmuggelt, war aber entdeckt und hinausexpediert worden.

Mit einer roten Fahne in der Hand stand nun Jung-Maoist Overney am Eingangstor. Einst selbst Renault-Arbeiter, war Overney vor einem Jahr gefeuert worden, weil er seinem Werkmeister auf dessen Wunsch hin das Sartre-Linksblatt »La cause du peuple« verkauft hatte.

Als seine Polit-Kumpane einige Meter auf das Werksgelände vordrangen und mit den Wächtern ins Handgemenge kamen, stürmte Jean-Antoine Tramoni, 36, Chef des Renault-Werkschutzes, auf die Gruppe zu. Er zog seinen Revolver und erschoß Overney.

Was noch vor drei Jahren wahrscheinlich zu einem Aufstand der Renault-Arbeiter geführt hätte, provozierte nun lediglich verbale Proteste von linken Gewerkschaftern und Politikern. Zwar rief die radikale Gewerkschaft CFDT für Montag vergangener Woche zu einem Streik im Renault-Werk auf, zwar erschien -- ähnlich wie bei früheren Gelegenheiten -- Sartre am Werkstor. Aber umsonst: Die Arbeiter schickten ihn nach Hause und schafften normal weiter.

Denn Frankreichs mächtigste Gewerkschaft, die kommunistische Confédération générale du travail (CGT). der die meisten Renault-Arbeiter angehören, hatte sich für den Werksfrieden eingesetzt.

»Das darf nicht wieder so anfangen wie 1968«, forderte KP-Vizegeneralsekretär Georges Marchais. Das gaullistische Parteiblatt »La Nation« applaudierte dem Kommunisten-Chef. In »bezeichnender« (so »Le Monde") Übereinstimmung spielten Linke und Rechte den Vorfall hinunter. Fragte der »Combat": »Starb Overney für nichts?«

Vermutlich. »Die Maoisten sind wirklich die verlorenen Kinder des Mai 68«, schrieb »Le Monde«. Konnten sie vor zweieinhalb Jahren noch mit der Solidarität vieler Franzosen rechnen, müssen sie heute jeden Zusammenprall mit der Staatsautorität fürchten, weil er ihnen keine Sympathie mehr verschafft.

Trotzig marschierten dennoch am Montagabend vergangener Woche 20 000 sogenannte Gauchisten -- Linksradikale aller Schattierungen -- zusammen mit Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, dem Mai-Anführer Alain Geismar, dem Trotzkisten Alain Krivine und dem linkssozialistischen Volksvertreter Michel Rocard, von der Metro-Station Charonne zur Place de Stalingrad. Im Chor riefen sie: »Wir werden Overney rächen.«

Als sich der Umzug aufgelöst hatte. bauten Jugendliche eine Barrikade, zündeten ein Auto an und griffen die bereitstehende Einsatzpolizei CRS mit Steinen an. Diese setzte Tränengas ein und verhaftete 23 Demonstranten.

Doch ein neuer Mai 1968, auf den Sartre und die jugendlichen Aktivisten gesetzt hatten, blieb dank der kommunistischen Law-and-Order-Taktik aus.

Während die linken Ultras versuchen, den traditionellen und in Frankreich immer noch populären Anarcho-Syndikalismus zu forcieren, geht es den Kommunisten darum, mit Hilfe ihrer straff organisierten Gewerkschaft CGT ein politisches Sprungbrett für einen Wahlerfolg der KPF zu schaffen. Einzig durch Wohlverhalten gegenüber den Unternehmern können sie erreichen. daß diese auch politische Aktivitäten der betrieblichen Parteizellen dulden.

Gründliche Gewerkschaftsarbeit ist für französische Links-Politiker oft Voraussetzung dafür, später in Arbeitervierteln bei Gemeinde- und selbst Parlamentswahlen zu gewinnen. Aus diesem Grund versuchen die Parteien oft. ihre Kandidaten in Gewerkschaftsorganisationen einzuschleusen.

Anders die Linksextremen: Sie haben ohnehin keine Chance. bei Wahlen durchzukommen. Ihr Ziel ist vielmehr. spontane Streiks zu entfesseln und durch eine Ausweitung -- wie im Mai 1968 -- Anhänger zu gewinnen.

Das wissen auch Frankreichs Unternehmer: Seit Jahren schon fördern die Automobil-Produzenten Citroen und Peugeot die lammfromme Gewerkschaft Confédération française du travail (CFE), in der die Mehrheit der Arbeiter dieser Unternehmen -- zum Teil zwangsweise -- organisiert ist.

Das Staatsunternehmen Renault braucht diese unternehmerfreundlichen Gewerkschafter nicht -- hier sorgen für Ruhe und Ordnung wirksamer die Kommunisten. Nicht selten soll belastendes Material über maoistische Arbeiter der Renault-Leitung von CGT-Funktionären zugespielt worden sein.

»Es wäre an der Zeit«, fordert Links-Literat Maurice Clavel, »daß eine neue Widerstandsbewegung Renault erneut verstaatlicht.«

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