Totengräber des Geigenbaus
Dreiundvierzig Schönbacher Geigenbauerfamilien in Mittenwald packen Kisten und Koffer. »Wir sind es leid, noch länger unter dem Druck der hiesigen Verhältnisse leben zu müssen«, erklärten sie entschieden. Ihr Reiseziel ist Erlangen.
Der Erlanger Landrat Hoenekopp war persönlich zu der Umsiedlungsdebatte von 110 Schönbachern nach Mittenwald herübergekommen. »Für Euch wird eine Siedlung von 30 Einfamilienhäusern in Erlangen gebaut«, konnte er den Egerländern versichern. Auch, daß er noch mit der bayrischen Regierung um einen weiteren 900000 DM Siedlungskredit verhandele. Trotzdem waren 67 Schönbacher nicht bereit, das Mittenwalder Konkurrenzfeld zu räumen.
Die einheimischen Geigenbauer hatten Landrat Hoenekopp ein runderes Ergebnis gewünscht. Liebend gern würden sie auch dem letzten Schönbacher das Gepäck zur Bahn fahren. »Immerhin«, trösten sich die Oberbayern, »die Konkurrenzkraft der Sudetendeutschen wird damit doch geschwächt.«
Im Kreis-Gesangverein schmettern die Mittenwalder und Schönbacher jede Woche einmal aus vollen Geigenbauerkehlen. Im übrigen aber sind nicht viel freundliche Worte zwischen ihnen gefallen, seit das bayrische Innenministerium im Sommer 1947 die ausgewiesenen Sudetendeutschen in Mittenwald ansiedelte.
»Die Schönbacher sind die Totengräber der Mittenwalder Geigenbaukunst«, prophezeit Leopold Aschauer düster und macht sich selbst Vorwürfe. Der Direktor der 1890 gegründeten Geigenbauerschule in Mittenwald hat mit Geigenbaumeister Seidel den ersten 20 Schönbachern persönlich die Mittenwalder Zuzugsgenehmigung besorgt.
Als diesen Vorboten aber von Staats wegen 210 Geigenbauerfamilien nach Mittenwald und Umgebung folgten, sank das einheimische Stimmungsbarometer bald auf den Gefrierpunkt. Nach der Zwangseinquartierung der Konkurrenz sehen die Mittenwalder zwei gute Erwerbsquellen versiegen.
Die letzte Fremdensaison 1948/49 war »hervorragend«. Ohne die ungebetenen hätten noch viel mehr gebetene Gäste ihr Geld im Mittenwalder Stadtsäckel lassen können. »Die Fremdlinge nehmen uns auch noch die besten Zimmer weg«, murren die ackernden Geigenbauern.
»Das ist es ja«, schrieben die Egerländer in ihren Anti-Mittenwald-Denkschriften an die bayrische Regierung. »Die machen ihre Geigen nur nebenbei, aber wir leben ausschließlich davon«.
Die Mittenwalder geben das zu. Ihre drei Erwerbszweige, bekennen sie, sind Geigenbau, Fremdenverkehr und Landwirtschaft. »Aber bei uns setzt ein Meister in 300 Arbeitsstunden die Geige von A bis Z allein zusammen. Die Schönbacher dagegen bauen ja nur Maschinengeigen«.
»Das da nennen die Mittenwalder Maschine«, weist Schönbachs Geigenbaumeister Sandner auf den Schrank. Es ist eine kleine Fräsmaschine, mit der er in seinem Werkstatt-Schlafraum den Geigenboden vorfräst, bevor er den 2 cm großen Geigenhobel zum Handschliff ansetzt.
Die Schönbacher haben die Produktion aufgeteilt. Hälse, Stege und Böden werden in getrennten Arbeitsgängen hergestellt. In 80 Stunden ist eine Geige fertig. Schönbacher Schülergeigen sind mit 20 DM um die Hälfte billiger als die der Oberbayern.
»Wir haben vor dem Kriege jährlich über 400000 Musikinstrumente hergestellt«, behaupten die Mittenwalder. »Und wir haben damals 90 Prozent des Weltbedarfs an Geigen gedeckt«, revanchieren sich die Schönbacher. Sie verarbeiteten vor 1939 jährlich 300 Waggons Fichte und Ahorn. Der internationale Exporthimmel hing damals voller Schönbach-Geigen.
Heute haben viele seit Weihnachten nicht ein einziges Instrument verkauft. Die Geschäftslage ist für beide Herstellergruppen ungünstig. Auch der Mittenwalder Geigenbauer Nebel mußte 30 Gehilfen entlassen.
Der erste Nachkriegs-Exportauftrag ging an die Schönbacher. Neidvoll blickten die Finheimischen hinter dem Briefträger her, der ihren Konkurrenten die erste 6000-Dollar-Bestellung aus Amerika und einen 9000-Dollar-Auftrag aus Indien überbrachte.*) Bereits nach wenigen Tagen klopften die ersten Mittenwalder bei den Schönbachern an: Ob man sich nicht an dem Auftrag beteiligen könne.
Allein beherrscht in Mittenwald nur der Straßenmusikant Hermann Mühlhans aus Breslau sein Revier. Auf seinem Geigenboden steht: Hergestellt bei H. Kretschmann in Markt Neukirchen. Das ist der dritte Konkurrent im Geigenbauerbunde.
*) Die Exportpreise für italienische und französische Geigen sind um 50% niedriger als die der deutschen.