Tragödie der Gewerkschaften Der Erfolgsfilm läuft rückwärts
Im folgenden geht es darum eine Todesnachricht zu überbringen.
Zu berichten ist von einem Ableben, das bisher öffentlich nicht annonciert wurde und seine Tragik auch daraus bezieht, dass die engsten Verwandten den Vorfall verschweigen. An der Sache ändert das freilich nichts: Die Gewerkschaften, so wie wir sie kannten, sind verstorben. Die Schutzmacht der kleinen Leute gibt es heute nicht mehr, weil denen, die sich heute Gewerkschaft nennen, die Macht fehlt, um anderen Schutz zu bieten.
In Wahrheit sind die Nachlassverwalter selbst schutzbedürftig. Als Prellbock gegen Unternehmerwillkür haben die Gewerkschaften sich selbst einst bezeichnet, sie waren die Lohnmaschine, zuweilen auch die gesellschaftspolitische Gegenmacht. Heute sind diese Gewerkschaften Teil der Geschichte.
Das Entstehen eines weltweiten Arbeitsmarkts, das Hinzutreten von 1,2 Milliarden neuen Beschäftigten und die Bereitschaft von weiteren Millionen Menschen, koste es, was es wolle, zu arbeiten, hat die Makler der Ware Arbeitskraft ihrer einst mächtigen Position beraubt.
Sie verfügten jahrzehntelang über eine Kostbarkeit sondergleichen; der gut ausgebildete Industriearbeiter war durch nichts zu ersetzen. Der Industrieroboter war noch nicht intelligent genug und die Masse der heutigen Lohnkonkurrenten lebte hinter Mauer und Stacheldraht, und zuweilen hatte sie sich auch nur im Morast der asiatischen Slums versteckt. Sie alle waren Menschen, aber auf dem Arbeitsmarkt waren sie keine Menschen wie du und ich. Denn die Teilnahme an der internationalen Arbeitsteilung des Westens wurde ihnen verwehrt, was dem Preis der westlichen Arbeitskraft gut bekam.
Es war den Maklern der Gewerkschaft ein Leichtes, den Unternehmern immer neue Lohnprozente abzujagen. Die Fabrikbesitzer hatten keine andere Wahl, als bei den Gewerkschaften einzukaufen, denn es gab den nationalen und bestenfalls noch den westlichen Arbeitsmarkt, aber keinen Weltarbeitsmarkt mit dieser einzigartigen Angebotsfülle. Die Arbeit war nach den beiden Weltkriegen knapp und für dieses knappe Gut besaßen die Gewerkschaften praktisch ein Monopol. Sie nutzten es nach Kräften.
Damit ihr Ableben nicht weiter auffällt, nehmen die Nachlassverwalter noch immer an den Tarifrunden teil. Sie kleiden sich ähnlich wie ihre Vorfahren mit Lederjacke und Rollkragenpullover, sie halten zuweilen die gleichen aufrührerischen Reden. Das flüchtige Publikum konnte in den vergangenen Jahren durchaus den Eindruck gewinnen, die Leiche lebt. Die ihr gegenübersitzenden Arbeitgeber spielen das schaurige Spiel mit. Sie fürchten, die Todesnachricht könnte die Menschen erschrecken und den Ruf nach Ersatz laut werden lassen. Sie haben die Gewerkschaft, als sie noch eine tapfere und damit für sie anstrengende Truppe war, nie sonderlich gemocht. Als Leiche ist sie ihnen lieber.
Es geht nur noch um das Verhindern von Schlimmerem
Wer allerdings genauer hinschaut sieht, dass die Nachlassverwalter nicht über die gleiche Kraft verfügen wie einst der Verstorbene. Die Lebensenergie, die es zum Poltern, Fordern und Streiken braucht, ist ihnen fremd. Für die normalen Beschäftigten wird seit längerem nichts mehr durchgesetzt, was der Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen deutlich wäre. Heute geht es vor allem um das Verhindern von Schlimmerem. "Besser mit Betriebsrat", lautet die Werbekampagne des Deutschen Gewerkschaftsbundes, die sich nicht mehr an selbstbewusste Arbeiter, sondern an Betroffene wendet.
Es ist nicht lange her, da stimmte die Gewerkschaft für den öffentlichen Dienst der Hauptstadt Berlin einer Gehaltsenkung zu, die in der Spitze ein Minus von zwölf Prozent bedeutete. In ihren besten Tagen hatte dieselbe Gewerkschaft elf Prozent zusätzlich herausgeholt. Das war in dieser Höhe politisch und ökonomisch falsch, aber darum geht es hier nicht. Es war ein untrügliches Zeichen ihrer Vitalität. Natürlich war der damalige Vorsitzende der ÖTV Heinz Kluncker ein unverschämter Nimmersatt, der für einen prallen Lohnbeutel der Busfahrer, Krankenschwestern und Müllmänner bereit war, die Autorität von SPD-Kanzler Willy Brandt zu beschädigen. Aber aus Sicht seiner Anhängerschaft war der Mann eben auch unverschämt erfolgreich.
Nichts Vergleichbares gibt es aus den letzten Jahren zu berichten. Weder Unverschämtheiten noch Erfolge sind überliefert. Dafür von allem das Gegenteil. Die Nachlassverwalter sind sogar dabei, die großen Gewerkschaftserfolge der Vergangenheit wieder zu kassieren. Die Arbeitszeit wird länger, der Kündigungsschutz löchriger, die Reallöhne fallen und auch der Anteil der Löhne am Nationaleinkommen bildet sich zugunsten des Gewinnanteils zurück.
So sehen Durchbrüche nach unten aus
Die Gewerkschaft Verdi, die im Einzelhandel knapp zweieinhalb Millionen Beschäftigte vertritt, sprach im Januar 2006 vom "Durchbruch" bei den Tarifgesprächen. Früher bedeute Durchbruch, dass abgekämpfte Funktionäre vor die Mikrofone traten, um ihrer Klientel nach durchverhandelter Nacht einen saftigen Lohnzuwachs zu verkünden. Im Januar 2006 bestand der "Durchbruch" aus eine mageren Lohnerhöhung von einem Prozent, was angesichts der doppelt so hohen Geldentwertung eine Lohnssenkung bedeutete. So sehen Durchbrüche nach unten aus.
Als die profitable und zu einem Drittel in Staatsbesitz befindliche Telekom die Streichung von 32.000 Arbeitsplätzen beschloss, hielt die Gewerkschaft still. Sie wird für derartiges Wohlverhalten von den Arbeitgebern als "vernünftig" und "zeitgemäß", in freudigem Überschwang sogar als "fortschrittlich" gelobt, was angesichts der einsetzenden Leichenstarre als frivol bezeichnet werden muss.
Wohlgemerkt: Es geht hier nicht darum, ob unsere Gewerkschaften immer richtig gehandelt haben. Wer hat das schon? Natürlich haben ihre Funktionäre gesündigt, auch wider die Interessen ihrer Mitglieder. Selbstverständlich wurde zuweilen überzogen, was den Arbeitnehmern nicht gut bekam. Die ständige Verkürzung der Arbeitswoche bei vollem Lohnausgleich war eine Dummheit sondergleichen. Sie hat die deutsche Volkswirtschaft zu einer der kapitalintensivsten der Welt gemacht. Arbeitskräfte wurden ausgemustert wie Ausschussware. Die erhoffte Neuverteilung der Arbeitszeit auf mehr Köpfe fand in den meisten Firmen nicht statt.
Aber eines konnte unserer Gewerkschaft niemand absprechen: Sie hat gelebt. Sie war für die Kapitalisten eine Zumutung, aber eine notwendige. Das System von Angebot und Nachfrage in seinem Rohzustand war erkennbar nicht dazu angetan, der Menschheit in Gänze zu nutzen. Millionen Arbeitern wurde in der Morgenstunde des Kapitalismus grobe Gewalt angetan. Sie mussten schuften bis zum Umfallen und selbst dann war niemand da, der sie auffing. Es gab kein Sicherheitsnetz für niemanden, die Alten blieben mittellos, die Krüppel waren auf sich gestellt, die Witwen bekamen im besten Fall das Mitleid der Fabrikanten übermittelt.
Schlimmer dran als der Arbeiter war nur der Arbeitslose, er hungerte und fror. Er konnte daran auch zugrunde gehen. Keine 80 Jahre ist es her, dass die Weltwirtschaftskrise in den USA und in Europa derart heftig wütete, dass Hungertote zu beklagen waren. In den Bergwerken und Chemiefabriken waren Arbeitsunfälle auch deshalb so häufig, weil der Mensch als Mensch nicht viel wert war. Er war Produktionsfaktor und eben noch nicht Sozialpartner.
Der Glaube an die Unternehmer wankte sogar in den USA
Die Geburtsstunde der westlichen Gewerkschaftsbewegung war daher nicht eine Laune der Weltgeschichte, sondern eine historische Notwendigkeit. Die Arbeitnehmer und ihre Funktionäre bildeten eine Zugewinngemeinschaft, wobei ein ungestümer Kapitalismus und ein autoritärer Staat, die beide zum Interessenausgleich nicht in der Lage waren, sie zusammenschweißte. Bald schon war gewerkschaftlicher Nachwuchs in einer Vielzahl von Ländern zu besichtigen. In der Spitze besaßen die westeuropäischen Gewerkschaften rund 50 Millionen Mitglieder. Es wurde gestreikt und demonstriert, auch deshalb, weil sich der Gewerkschaftskörper so am besten spüren konnte.
Selbst in Amerika fassten die Arbeitnehmerorganisationen mit Verspätung Fuß, setzen den Achtstundentag und einen gesetzlichen Mindestlohn durch, veränderten erst das Klima und dann die Geschäftsgrundlage des Wirtschaftsystems. Das Raubtierhafte des amerikanischen Kapitalismus verschwand nie ganz, aber es trat weniger auffällig in Erscheinung.
Die Große Depression arbeitete den Gewerkschaften in die Hände. Ihre Mitgliederzahl verdoppelte sich im Gefolge jener düsteren Jahre, stieg von 1930 bis zum Kriegsende auf 15 Millionen Menschen. Der Glaube an die Weisheit der Unternehmer war nun auch im Stammland des Kapitalismus erschüttert; der Ruf nach einer gewerkschaftlichen Gegenmacht erklang. Erstmals in der Geschichte der USA war es modern, ein Mann der Gewerkschaft zu sein. Unter Präsident Eisenhower erlebte das Land eine Premiere: Ein Funktionär der Klempnergewerkschaft schaffte es an den Kabinettstisch, wo er sich allerdings nur acht Monate hielt.
Die Arbeitszeit schmolz, die Löhne stiegen. Die Firmen verpflichteten sich, die Pensionszahlungen ihrer Mitarbeiter zu übernehmen. Die Gewerkschaften konnten ihre Machtbasis weiter ausbauen. Pro Jahr kamen in der Nachkriegszeit rund 100.000 neue Mitglieder dazu, bis schließlich 17 Millionen Beschäftigte ein Gewerkschaftsbuch besaßen. In der Spitze erreichte der Organisationsgrad fast 40 Prozent aller Beschäftigten, womit sich beim Lohnpoker aufs Schönste auftrumpfen ließ.
Es gibt Aufregung hier und da, aber keine Gegenwehr
Dieses Spiel ist vorbei. Seit längerem läuft dieser Erfolgsfilm rückwärts: Die Arbeitszeit steigt, die Löhne stagnieren oder schmelzen. Selbst erste Adressen der Wirtschaft wie Ford und General Motors versuchen in diesen Tagen, die Pensionslasten loszuwerden, was schon deshalb besonders schäbig ist, weil die Arbeiter in den USA keine auch nur halbwegs auskömmliche Staatsrente besitzen.
Von gewerkschaftlicher Selbstverteidigung ist in der Stunde der Bedrängnis wenig zu spüren. Es gibt Aufregung hier und da, aber keine Gegenwehr. Wie ihre westeuropäischen Verwandten haben auch die US-Gewerkschaften vor längerem schon das Zeitliche gesegnet. Mit dem Verschwinden der Industrie verließen sie die Kräfte. Nur acht Prozent der privat Beschäftigten gehören heute noch einer Gewerkschaft an; seit dem Höhepunkt Mitte der vierziger Jahre hat sich der Organisationsgrad damit um mehr als drei Viertel reduziert.
Die Durchschlagskraft der US-Gewerkschaften in der Lohnpolitik war nie übertrieben groß, aber heute ist sie marginal. 85 Prozent aller Beschäftigten in den USA arbeiten ohne Tarifvertrag. Die übrigen Arbeiter und Angestellten werden von verschiedensten Einzelgewerkschaften betreut, deren kleinste, die Gewerkschaft der Hufschmiede, gerade mal 85 Mitglieder umfasst. Rund 100.000 Einzeltarifverträge sind derzeit in Kraft; im Durchschnitt ist das ein Tarifvertrag für rund 160 Beschäftigte.
Der sinkende Zuspruch der Beschäftigten hat den Dachverband der amerikanischen Gewerkschaften im Herbst 2005 gespalten. Wenige Tage vor seinem 50-jährigen Jubiläum verabschiedeten sich vier Millionen Mitglieder. Sie warfen der Gewerkschaftsspitze unter Führung des 72-jährigen John Sweeney vor, den Bedeutungsverlust nicht gestoppt zu haben. "Change to Win" (Sieg durch Wandel) lautet das Motto der Abtrünnigen. Nun sind die US-Gewerkschaften getrennt schwach.
Der Arzt kam in Gestalt von McKinsey
In Europa ergibt sich ein ähnlicher Befund, nur der Zeitpunkt, an dem der Tod einsetzte, variiert von Land zu Land. Die Gewerkschaften in Großbritannien waren früher dran als andere. Premierministerin Maggie Thatcher brach ihnen mit Hilfe von Parlament und Polizei schon in den achtziger Jahren das Genick. Die aufmüpfigen Minenarbeiter unter Führung von Arthur Scargill boten der Regierungschefin, die sich erst in diesem Machtkampf den Titel "Eiserne Lady" erwarb, die Gelegenheit zum Draufschlagen. Thatcher verfügte 1984 die Schließung unrentabler Minen. Scargill, bekennender Marxist und erprobter Heißsporn, rief zum landesweiten Streik. 2000 Streiks pro Jahr, das war in den Jahren zuvor die britische Normalität, nun aber blies dieser Teufelskerl zum Generalangriff. Thatcher besaß keine andere Wahl, als sich ebenfalls in die Schlacht zu stürzen.
Das Land hatte hohe Schulden aufgetürmt, der Staatsetat war wie der eines Dritte-Welt-Landes auf Geldzufuhr vom Weltwährungsfonds (IWF) angewiesen. Die Industrie lag danieder, als sich im Juni 1984 streikende Bergarbeiter und berittene Polizei zur "Schlacht von Orgreave" gegenüberstanden. Der einjährige Streik in den alten Kohlerevieren endete mit einer Niederlage der Arbeitnehmer, die so total war wie zuvor ihr Machtanspruch.
Seit den kämpferischen Tagen ist fast die Hälfte aller Mitglieder von der Fahne gegangen, minus sechs Millionen Menschen. Der Sozialdemokrat Tony Blair hat gar nicht erst den Versuch einer Wiederbeatmung gemacht.
Der Rückzug der Gewerkschaften blieb kein britisches Phänomen. In Italien sind die Arbeitnehmerorganisationen heute getarnte Seniorenclubs. Die gemäßigte CISL und die sozialistische CGIL weisen einen Rentneranteil von über 50 Prozent auf. Die französischen Gewerkschaften bekämpfen sich am liebsten untereinander. Alle Arbeitnehmerorganisationen zusammen verfügen in dem Land mit 60 Millionen Einwohnern über zwei Millionen Mitglieder, die sich vor allem auf den öffentlichen Dienst konzentrieren. Der Privatsektor ist heute weitestgehend gewerkschaftsfrei. 95 Prozent der Beschäftigten gehören keiner Arbeitnehmervertretung an.
Über ein Viertel sind Rentner oder Arbeitslose
Die deutsche Gewerkschaftsspitze rief 2004 den Arzt. Er kam in Gestalt eines McKinsey-Beraters. Eine interne Studie über Zustand und Zukunftsaussichten der Gewerkschaftsbewegung entstand unter seiner Federführung, die bis heute unter Verschluss gehalten wird. Die Arbeitnehmerorganisation befinde sich in einer "Dauerdefensive", weil sie die Erfolge von gestern verteidige, aber keine neuen erringe, heißt es darin. Es fehle an "ausreichend attraktiven neuen Kampfzielen" und Konzeptionen zur Bewältigung des Strukturwandels lägen auch nicht vor. Diese Studie war im Grunde nichts anderes als der Totenschein.
Seit zehn Jahren verlassen pro Jahr im Schnitt 250.000 Menschen die Gewerkschaften des DGB, was jedes Mal fast einer halben Volkspartei entspricht. Ein Viertel aller Mitglieder des DGB ist schon weg. Die Selbstauflösung hat damit begonnen. Die verbliebenen Mitglieder sind nicht mehr das, was man eine starke Truppe nennt. Die Jüngeren fehlen fast völlig; über ein Viertel sind Rentner oder Arbeitslose, was der Statistik gut tut, nicht aber der Kampfeskraft. Rentner und Arbeitslose können schimpfen, aber nicht streiken.
Gewerkschaftschef Michael Sommer unternahm den tollkühnen Versuch, die Mitglieder über den bedauerlichen Todesfall zu informieren. Die heutigen Gewerkschaften müssten die Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen, mahnte er in einem SPIEGEL-Interview. Sie hätten nicht mehr die Kraft, das politische Geschehen grundlegend und zu ihren Gunsten zu verändern, gestand er ein. Der Sozialstaat werde auf eine Grundversorgung reduziert. "Das können wir kritisieren, ändern werden wir es nicht mehr", sagte er.
Was er versuchte, war nichts Geringeres als eine Art Friedensschluss mit den veränderten Wirklichkeiten. Sommer wollte die Nebelwand aus Selbsttäuschung und Illusion durchschneiden, die seine Organisation von Millionen Beschäftigten heute trennt.
Innerhalb des DGB war nach Erscheinen des Interviews der Teufel los. Die Funktionäre waren fassungslos. Säße Sommer nicht so fest im Sattel seiner Organisation, hätte er Schaden genommen. Die Nachlassverwalter wollen den Todesfall weiter verheimlichen, sich selbst und die Öffentlichkeit noch ein wenig täuschen. Sommer jedenfalls hat seine Lektion gelernt: "Man darf den Menschen alles nehmen. Nur nicht ihre Lebenslügen."