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UMWELT Trübe Sicht

Die Schweiz setzt ihr sechstes Atomkraftwerk, ein Zwischenlager für radioaktive Abfälle und ein Uranvorratslager dicht an die deutsche Grenze am Hochrhein. *
aus DER SPIEGEL 3/1986

Wanderbücher und Bildbände schildern die Hochrhein-Landschaft entlang der deutsch-schweizerischen Grenze zwischen Weil und Waldshut als Idylle. »Sehr reizvoll« nennt Goldstadts Reiseführer »Schwarzwald-Süd« die Gegend »mit dem rasch und in vielen Windungen dahinfließenden Strom und mit ihren stillen Auen«. Wer allerdings vom Hochrhein-Querweg, einer beliebten Route von Rheinfelden nach Albbruck bei Waldshut, Ausschau hält, der blickt zuweilen auf Industrielandschaft mit riesigen Schornsteinen und Kühltürmen. Die Reize, die das Revier am Hochrhein bietet, sind von besonderer Art: Schwaden von Abgasen legen sich über die Kurorte des Grenzlands.

Auf der deutschen Rheinseite steht fast alle Tage schmutzigbrauner Qualm aus den Lonza-Werken über Waldshut-Tiengen. Weiter westwärts verpesten Abgase der Firmen Aluminiumhütte, Degussa und Dynamit Nobel in Rheinfelden die Luft. Noch weiter rheinabwärts, in Grenzach-Wyhlen nahe Weil und Lörrach, stoßen die Chemiewerke Hoffmann-La Roche jährlich rund tausend Tonnen Schwefeldioxide und Stickoxide aus.

Bei der vorherrschenden Windrichtung Südwest treibt das Gift zum Schwarzwald hin.

Und nun muß Baden-Württembergs Umweltminister Gerhard Weiser (CDU) auch noch zugeben, »daß der Betrieb des Kernkraftwerks Leibstadt in der näheren Umgebung der Anlage zu einer meßbaren Verringerung der Sonnenscheindauer führt«. Eine gewaltige Dampffahne, bis zu drei Kilometer lang, entweicht den Kühltürmen des schweizerischen Kraftwerks gegenüber Waldshut und trübt den Grenzbewohnern die Sicht.

Die jährliche »Beschattungszeit« durch Leibstädter Dampfschwaden für die deutsche Hochrhein-Gemeinde Dogern beträgt 55 Stunden, für das westliche Waldshut immerhin 20 Stunden, wie Weiser vor dem Landtag einräumte. Das erscheint den betroffenen Kommunen eher als Untertreibung.

Mit Leibstadt, das seit 1984 Strom liefert, stehen nunmehr vier von den insgesamt fünf eidgenössischen Kernkraftwerken (KKW) am Rhein oder in der Nähe des Flusses: Beznau 1 und 2 acht Kilometer Luftlinie von Rhein und deutscher Grenze, Gösgen-Däniken in zwanzig Kilometer Entfernung.

Jetzt aber legt die Schweiz im Grenzgebiet erst richtig los. Was Landräte, Stadtoberhäupter und Bürgerinitiativen in den Protest treibt, nennt der Bund für Umwelt und Naturschutz schlankweg den »Ausverkauf des Hochrheins an die Schweizer Strom- und Atomlobby«. Die Schweiz plaziert auf ihrer Hochrhein-Seite demnächst *___ihr sechstes Kernkraftwerk Kai seraugst dicht bei ____Rheinfelden - das erste KKW, das ausschließlich mit ____Rheinwasser-Kühlung betrieben wird; *___ein Zwischenlager für schwach- und mittelradioaktive ____Abfälle in Würen lingen, zwölf Kilometer von der deut ____schen Grenze entfernt südlich Walds hut, sowie *___ein Uran-Vorratslager für die schwei zerischen ____Atomkraftwerke ebenfalls in Würenlingen, Standort des ____Eidge

nössischen Instituts für Reaktorfor schung.

Schon seit längerem ist auch die Endlagerung des gesamten schweizerischen Atommülls nahe dem Hochrhein vorgesehen (SPIEGEL 21/1982). Probebohrungen haben ergeben, daß die Bodenbeschaffenheit zwischen Basel und Schaffhausen für bis zu 1500 Meter tiefe Stollen zur Aufnahme radioaktiver Abfälle als besonders geeignet erscheint.

Schließlich soll der Rhein entlang der Grenze Schweiz-Liechtenstein für die Stromerzeugung genutzt werden: durch den Bau von fünf Staustufen. Das verändert nicht nur das vielgerühmte Bild der Rhein-Mäander, sondern auch die Qualität des Wassers - das jedenfalls behauptet die schweizerische »Vereinigung zum Schutze des Rheins«.

Die Folgen werden sich insbesondere im Bodensee bemerkbar machen, dem größten und saubersten deutschen Trinkwasserspeicher. Der eidgenössische Diplomchemiker Ernst Rohrer, der das Staustufenprojekt für die Rhein-Schutzvereinigung begutachtete, sagt voraus, daß sich der Zustand des Bodensees »in verhängnisvoller Weise ändern« werde.

Weil sich in den Staustufen massenweise Sedimente ansammeln, müssen die künftigen Rhein-Kraftwerke »periodische Spülungen« (Rohrer) vornehmen, drei- bis viermal jährlich, wobei durch gleichzeitige Öffnung aller Schleusen die Ablagerungen ausgeschwemmt werden. Bei diesen »Schlammstößen« wird laut Rohrer Plankton mit den Sedimenten in die Tiefe gerissen und dort abgelagert. Die Zersetzung des organischen Materials entzieht dem Tiefenwasser allen Sauerstoff, der Abbau der großen Masse organischen Materials vollzieht sich »anaerob« (ohne Sauerstoff), was üble Zersetzungsprodukte freisetzt, beispielsweise den stinkenden Schwefelwasserstoff.

Fazit des Rohrer-Gutachtens: »Die Qualität des Seewassers wird durch den Bau der Rhein-Kraftwerke in starkem Maße in negativer Weise beeinflußt. Das wird längerfristig nicht nur den Erholungsraum des Gebietes beeinflussen, sondern auch die Verwendung des Wassers beeinträchtigen.«

Das Staustufenprojekt könnte die Bundesrepublik, auch wenn sie wollte nicht verhindern - es ist eine Schweizer Angelegenheit. Hingegen bedurfte es Bonner Zustimmung, das geplante KKW Kaiseraugst mit Rheinwasser zu kühlen; sie wurde vor kurzem - grundsätzlich - erteilt. Das schweizerische Bundesamt für Umweltschutz in Bern freute sich über das deutsche Verständnis für den »dringenden Wunsch« (Direktor Bruno Bohlen) der Eidgenossen, auf Kühltürme zu verzichten.

Das bedeutet die Abkehr von einer deutsch-schweizerischen Vereinbarung aus dem Jahre 1971, jegliche KKW-Flußwasserkühlung am Hochrhein zu unterlassen. Denn Kühlung für Kraftwerke bedeutet Wärme für den Fluß. Wenn das Rheinwasser nach dem Kühlvorgang bei Kaiseraugst in den Strom zurückfließt, ist es nach den Berechnungen der Wissenschaftler bis zu vierzig Grad aufgewärmt. Folge: Die Stromtemperatur könnte dann noch bis nördlich Freiburg, am Oberrhein, dauerhaft um drei Grad steigen.

Die Folgen einer solchen Aufwärmung sind absehbar: Die biologische Wirkung gelöster Giftstoffe im Wasser wird erhöht, der Sauerstoffgehalt sinkt, die Flußnebelbildung verstärkt sich, die Wasserqualität nimmt ab.

Die Kühlung mit Flußwasser birgt offenkundig ebenso Nachteile wie der Betrieb von Kühltürmen - weshalb der Waldshuter Landrat Bernhard Wütz auch von der zeitweilig diskutierten »Mischkühlung« (teils mit Flußkühlung, teils Kühltürme) für das Kernkraftwerk Leibstadt nicht überzeugt ist.

Der Stuttgarter Umweltminister Weiser mag ungeachtet aller kommunalen Proteste nicht von »erheblichen Beeinträchtigungen« für die deutschen Grenzgemeinden sprechen, die ihrerseits der Landesregierung Vorwürfe machen und neue Verhandlungen mit der Schweiz verlangen. Dogerns Bürgermeister Karl-Heinz Wehrle ("Wir haben doch ein Recht auf Sonne") meint, die Landesregierung habe das Problem bisher »erstaunlich leichtfüßig« behandelt.

Die Betreiber des KKW Leibstadt versuchten unterdes das Problem auf gut kapitalistische Weise zu regeln: Den deutschen und schweizerischen Gemeinden, die vom Kühldampf eingedeckt werden, sind eine Million Mark zugedacht worden, je 100000 Mark fallen dabei Waldshut-Tiengen und Dogern zu - als »Geste guten Willens, nicht als Entschädigung«, wie ein Kraftwerkssprecher bekundet.

Ohnehin sehen die Schweizer KKW-Betreiber den über den Rhein in Richtung Bundesrepublik abziehenden Dampfschwaden mit heiterer Gelassenheit nach. Bei der offiziellen Einweihung des Kraftwerkes im Oktober wurde ein einschlägiges »Dessert surprise« gereicht: ein kleiner Kühlturm mit einer Dampffahne aus Zuckerwatte.

[Grafiktext]

Industrie Revier am Hochrhein Rheinfelden Aluminiumhütte Dynamit Nobel Degussa Würenlingen geplant: Zwischenlager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle und ein Uran-Vorratslager Atomkraftwerke in Betrieb geplant weiteres Kernkraftwerk Mühlenberg außerhalb dieses Kartenausschnittes Industriewerke

[GrafiktextEnde]

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