Überwachungsskandal Bahn-Spitzelei entsetzt Datenschützer
Hamburg - 173.000 Mitarbeiter hat die Bahn bespitzelt - und dieses bisher ungekannte Ausmaß sorgt für Entsetzen: Die Vorfälle hätten eine "einzigartige Dimension", sagte Thilo Weichert SPIEGEL ONLINE. "So ein Abgleich darf nicht ohne Zustimmung der Betroffenen vorgenommen werden, das ist rechtswidrig", so die harsche Kritik des Datenschutzbeauftragten aus Schleswig-Holstein.

Hauptbahnhof Berlin: Bahn spionierte heimlich 173.000 Mitarbeiter aus
Foto: DPAÄhnlich empört reagierte die Politik auf die neuen Zahlen: Der SPD-Abgeordnete Uwe Beckmeyer sprach nach der Sitzung im Verkehrsausschuss des Bundestags, in der die Bahn die Zahl der überprüften Mitarbeiter offenlegte, von "Abgründen". Die Grünen warfen der Bahn vor, massiv gegen "schutzwürdige Interessen" der Betroffenen verstoßen zu haben.
SPD-Politiker Sebastian Edathy, Vorsitzender des Innenausschusses, hält es für "abenteuerlich, wenn ein Konzern einen Großteil seiner Mitarbeiter einer Art Rasterfahndung unterzieht." Es sei offenkundig, dass das Vorgehen des Konzerns gegen bestehendes Datenschutzrecht verstoße.
Der CDU-Abgeordnete Dirk Fischer erklärte, es blieben Fragen nach der Zulässigkeit der Rasterfahndung: "Die Überprüfung fast der gesamten Konzernbelegschaft mit Korruptionsbekämpfung zu begründen, ist absurd. Der Großteil aller Bahnbeschäftigen hat mit Einkäufen und Auftragsvergaben überhaupt nichts zu tun", sagte er. Für endgültige Schlussfolgerungen sei es allerdings noch zu früh.
"Innere Sicherheit privatisiert"
Die Bahn hat in den Jahren 2002 und 2003 heimlich rund drei Viertel der damals gut 240.000 Mitarbeiter auf Korruptionsverdacht überprüft. Das sagte der Anti-Korruptions-Beauftragte der Bahn, Wolfgang Schaupensteiner, nach Angaben von Teilnehmern am Mittwoch im Verkehrsausschuss des Bundestages in Berlin. Damit waren fast drei Viertel der Beschäftigten betroffen. Daten wie Wohnadressen, Telefonnummern und Bankverbindungen seien mit jenen von 80.000 Firmen abgeglichen worden, zu denen die Bahn Geschäftsbeziehungen hatte.
Die Bahn teilte zu den Vorgängen mit, dass die Mitarbeiter des Konzerns im Kampf gegen Wirtschaftskriminalität "keine strafrechtlich relevanten Taten begangen hätten". Entgegen vielfacher Behauptung sei der Abgleich von Mitarbeiter- und Lieferantenadressen das sogenannte Screening - rechtlich nicht zu beanstanden. Das Verfahren sei der Bahn von ihrer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft empfohlen worden. "Hieraus einen Spitzel- oder Ausspäh-Skandal wie bei anderen Unternehmen zu konstruieren, ist maßlos übertrieben."
Die grüne Datenschutzexpertin Silke Stokar von Neuforn hält das Ausmaß der Bespitzelungen schlicht für "unfassbar". "Ich verstehe nicht, wie man dieser Vorfälle angesichts dieser Zahlen noch so herunterspielen kann, wie das etwa der Korruptions-Beauftragte Schaupensteiner derzeit tut", sagte Stokar von Neuforn SPIEGEL ONLINE.
Sie hält das Vorgehen der Bahn vor allem für bedenklich, weil es "die innere Sicherheit privatisiert". "Warum arbeiten die Unternehmen bei einem konkreten Verdacht mit einer privaten Detektei zusammen, anstatt die Polizei zu verständigen?" Das Vorgehen lasse sich längst nicht mehr auf der Grundlage der allgemeinen Korruptionsbekämpfung begründen.
Auch bei der Bahn-Gewerkschaft GDBA herrscht Aufregung über die Ausspäh-Aktion: Der Vorsitzende der Arbeitnehmerorganisation Klaus-Dieter Hommel forderte eine lückenlose Aufklärung des Datenskandals bei Bahn sowie und personelle Konsequenzen, sofern sich die Verdachtsmomente gegen die Konzernleitung erhärten.
"Es ist eine Grenze überschritten"
"Sollten sich die Hinweise bestätigen, hätte der Vorstand der Bahn AG eine Grenze überschritten, die ein Gemeinwesen wie die Bundesrepublik Deutschland bisher von totalitären Staaten trennt", sagte er. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seien zutiefst empört über das Misstrauen der Unternehmensführung, die offensichtlich jeden verdächtige, der im Konzern und in dessen Umfeld arbeite.
Weil es sich bei der Bahn um ein Staatsunternehmen handelt, fordert Stokar eine lückenlose Aufklärung der Vorfälle durch die Bundesregierung: "Es gibt hier eine Aufklärungspflicht von Seiten der Bundesregierung, es muss eine externe Untersuchung geben, deren Ergebnisse dem Parlament vorgestellt werden", sagt die Innenexpertin der Grünen. Neben der Transparenz fordert sie allerdings auch eine Entschädigung für die Betroffenen: "Wenn nur jeder der bespitzelten Mitarbeiter 100 Euro bekommen würde, wäre das schon eine Summer, die dem Konzern wehtun würde."
Der Berliner Datenschutzbeauftragte Alexander Dix sagte Teilnehmern zufolge im Ausschuss, die Bahn müsse wegen Verstößen gegen Datenschutzbestimmungen in mindestens zwei Fällen mit Geldbußen von 250.000 Euro rechnen. Die Mitarbeiter seien ohne konkreten Verdacht überprüft und auch im Nachhinein nicht informiert worden. Die Überprüfungen hatten nach Dix Worten den Charakter einer Rasterfahndung.
Die Affäre reicht zurück bis zum Sommer 2008. Damals hatte die Bahn eingeräumt, der Berliner Ermittlungsfirma Network Deutschland in den Jahren 1998 bis 2007 in 43 Fällen Aufträge erteilt zu haben. Network stand damals im Mittelpunkt des Bespitzelungsskandals bei der Deutschen Telekom. Recherchen des Magazins "Stern" ergaben vor einer Woche, dass mindestens tausend Bahn-Führungskräfte von Kontrollen betroffen waren.