Umstrittene Kontenabrufe "Die, die bibbern müssen, wollen wir ja kriegen"

Aller Protest hat nichts bewirkt: Laut Verfassungsgericht dürfen Behörden weiterhin heimlich Kontodaten abfragen, um Steuerhinterziehung oder Sozialhilfemissbrauch zu verhindern. Nun werden Ängste wach, Beamte könnten nach dem Richterspruch sämtliche Hemmungen ablegen.

Karlsruhe – Die Zahlen, die die Kritiker der Kontenabrufe verbreiten, sind erschreckend. "In drei, vier Jahren könnte die Zahl der Abfragen auf 100.000 pro Jahr hochschnellen", warnte Rechtsanwalt Markus Deutsch vom Deutschen Steuerberaterverband im "Tagesspiegel". Andernorts heißt es, die Finanzämter rüsteten derzeit sogar ihre Kapazitäten dahingehend auf, dass bald 5000 Kontoabfragen pro Tag möglich seien. Der Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichts, das fünf Beschwerden gegen das Instrument zum Aufspüren von Steuersündern heute abwies, scheint diesem Horrorszenario nun Tür und Tor zu öffnen.

Denn die Richter halten die seit gut zwei Jahren geltenden Zugriffsrechte der Behörden im Wesentlichen für vereinbar mit dem Grundgesetz. Finanzämter, Sozial- und Strafverfolgungsbehörden dürfen also weiter Auskünfte etwa über Bankkonten, Bausparverträge und Wertpapierdepots bei Banken anfordern, wenn der Verdacht der Steuerhinterziehung oder des Sozialleistungsbetrugs besteht. Und das, ohne den Betroffenen zuvor darüber informieren zu müssen.

Das Bundesfinanzministerium beruhigt: Der Richterspruch bedeute sicher nicht, dass es nun zu einem massiven Anstieg der Kontenabfragen kommen werde, sagte ein Sprecher zu SPIEGEL ONLINE. "Das hat sich auf dem aktuellen Niveau eingependelt." Der Ausbau der Abfragekapazitäten bei den Ämtern erfolge nur zur Sicherheit. Im vergangenen Jahr wurden allein von Finanz- und Sozialbehörden 25.569 Kontenabfragen gestellt. Die Gesamtzahl der Zugriffe von Justiz und Behörden summierte sich nach einer Übersicht des Bankenverbands 2006 auf 81.156 - rund 30 Prozent mehr als im Vorjahr.

Die Bauchschmerzen vieler Beobachter angesichts des Instruments bleiben. Das Gesetz gestehe den Beamten einen hohen Ermessensspielraum zu, "da ist die Missbrauchsgefahr hoch", sagt etwa der auf Steuerstrafsachen spezialisierte Berliner Anwalt Andreas Böhm. Außerdem ließen sich selbst rechtschaffene Steuerzahler instinktiv sehr ungern in die Finanzbücher gucken, so der Anwalt. "Der Kontenabruf war in der Öffentlichkeit derart diskutiert und umstritten, dass viele eine tiefe, unbegründete Angst haben, die man ihnen nur schwer nehmen kann." Die einen schafften ihr Geld deshalb zur Vorsicht gern ins Ausland, "andere heben es ab und stecken es in ein Bankfach oder in den Sparstrumpf."

Keine Abfragen "ins Blaue hinein"

Auch beim Deutschen Sparkassen- und Giroverband (DSGV) ist man wenig begeistert über das Urteil. "Aus unserer Sicht muss der Kontenabruf breitestmöglich eingeschränkt werden, um der Abgeltungsteuer breite Akzeptanz in der Bevölkerung zu verschaffen." Bei der ab 2009 geltenden Steuer führen die Banken pauschal einen Teil der Kapitalerträge an das Finanzamt ab, was eine Kontrolle der Steuererklärung unnötig macht. Schon vor dem Richterspruch hatte die Vereinigung kritisiert, der Kontenabruf verstoße gegen das Bankgeheimnis. Außerdem würden Teile der Kontrollaufgaben der Behörden auf die Finanzinstitute abgewälzt, hieß es damals.

Das Bundesfinanzministerium weist die Kritik zurück. Wegen der klaren Regeln "sehe ich keine Missbrauchsgefahr", sagt der Sprecher. "Der ehrliche Steuerzahler hat nichts zu befürchten, da es bei ihm von vorneherein nicht zu einer Abfrage kommt. Und die, die bibbern müssen, die wollen wir ja gerade kriegen."

Bleibt die Frage: Wer zahlt?

Der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar sieht in dem heute gefällten Urteil gar eine Stärkung des Datenschutzes. Abrufe "ins Blaue hinein" untersagten die Richter ausdrücklich, es muss einen Anlass für die Untersuchung geben. Außerdem müssen vom Bundesfinanzministerium festgelegte Richtlinien unbedingt eingehalten werden. So muss der Betroffene vor der Abfrage in der Regel Gelegenheit erhalten, selbst Auskunft zu erteilen. Nach der Maßnahme hat er auf Nachfrage ein Recht auf Information.

Teilweise stattgegeben wurde heute außerdem den Eingaben der beiden Sozialleistungsempfänger, die neben der Volksbank Raesfeld, einem Notar und einem Bundeswehrsoldaten gegen das Gesetz geklagt hatten. Das Gericht bemängelte, dass die zur Abfrage berechtigten Sozialbehörden unpräzise benannt seien. Die beanstandeten Mängel werden mit der geplanten Unternehmensteuerreform ausgebügelt.

Ein Problem bleibt aber bestehen, das derzeit vor allem beim Bundesverband deutscher Banken (BdB) für Missmut sorgt: Noch nicht entschieden sei die Frage, ob auch weiterhin die Kreditinstitute für die beim Abruf entstehenden Kosten aufkommen müssten, erklärt die Vereinigung. Der BdB sei von jeher der Meinung, dass diese "vom Staat zu tragen sind."

(Aktenzeichen: Bundesverfassungsgericht 1 BvR 1550/03; 1 BvR 2357/04; 1 BvR 603/05)

mit AP

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